Lou Reed :: Ecstasy
Fast so gut wie "New York": Lou auf Tuchfühlung mit Gegenspieler Young
Es ist Lou Reeds gutes Recht, dazu zu verdienen. Ein paar Fotos zu schießen zum Beispiel oder, wie neulich im Hamburger Thalia Theater, auch mal ein Musical zu machen. „POEtry“ hieß, etwas wichtigtuerisch, die so genannte Rockoper, die er zusammen mit Robert Wilson auf die Bühne brachte. Ziemlich gegen Ende des im Ganzen doch recht erfolgreichen Abends schien er sich aber darauf zu besinnen, worauf es wirklich ankommt. „Lemme hear the guitar!“, rief er den Musikern wie ein Halbstarker zu.
Allzu vornehm darf es nicht zugehen. Es gibt weißgott Wichtigeres als das Kultivierte. Rock’n’Roll nämlich, Lärm, mit dem dieser bescheuerten Welt immer noch am besten beizukommen ist. Wie hatte der Meister vor einem halben Jahr gesagt? „Rock’n’Roll ist Herz und Gewalt.“ Wie gut, dass Lou Reed Kamera und Notenblatt jetzt aus der Hand gelegt und wieder zur Gitarre gegriffen hat -Jkstasy“ ist, man kann es nicht anders sagen, ein Meisterwerk geworden, das einen Vergleich mit „New %rt“keineswegs zu scheuen braucht. Nicht ganz so schlackenlos wie jenes frühe Spätwerk von 1989, aber über weite Strecken sehr geradeaus und im Ganzen auch bündig, nährt es die fermutung, Reed habe auf die Gelegenheit nur gewartet, sich als möglicherweise eben doch höchste Instanz für erwachsene Rockmusik in Erinnerung zurufen.
Es gibt auf diesem düsteren, wuchtigen, überlangen Album kein schlechtes Lied. Deftiges, Zügiges und sogar richtig Schnelles läuft mit unter, klanglich über weite Stecken auf Tuchfühlung mit dem großen Gegenspieler Neil Young, besonders auf „Like A Possum“: geradezu abenteuerliche 18 Minuten Gitarrenlärm, der Reeds Überdruss in herausfordernder Monotonie besser zum Ausdruck bringt ab alle textlichen Winkelzüge zusammen. In seinen besten Momenten findet Lou Reed sogar heraus aus seiner abgeklärten Impressionisten-Pose. Wenn er sich auf „Tatters“ in zweimaliger Steigerung aufrafft zu dem Bekenntnis „So sad to leave this way“, dann steht er auf einmal wie ein richtiger Schmerzensmann vor uns, der viel erlebt und erlitten hat und das auch ganz unverstellt mitteilt Hier wird Lou ganz Klage, und auf einmal bekommt man Mitleid mit diesem Mann, der die Coolness als relevante Lebensäußerung im Rock etabliert hat.
Aber den Lou Reed, der mit verschiedenen Lebensentwürfen lässig jongliert, den gibt es immer noch. Mit dem altmodisch betitelten „Modern Dance“ stellt er sich und der Welt alles anheim: „Maybe I should go and live in Amsterdam; maybe you and I could fall in love“ – es ist alles einerlei und kommt nicht so darauf an. „Mystic Child“ und „Mad“ sind präzise Dokumente des Abgleitens in die Verrücktheit, in Trauer und Verzweiflung, und „Baton Rouge“ ist textlich beinahe schon neilyoungkompatibel, aber natürlich viel hypnotischer als beim kanadischen Jammerlappen. Abermals meldet sich Reeds Altersweisheit als Nihilismus zynisch zu Wort, den er mit Soul-Bläsern und einem gospelnden Frauenchor geschickt entschärft. Es ist gut zu wissen, dass ihn die Musicals und die Fotografiererei nicht ausfüllen und er immer noch eine sensationelle Platte aufnehmen kann.