Nuggets von Ulli Schüler
Nuggets“ ohne Sterne? – Da es im redaktionellen Umfeld Stimmen gibt, die davor warnen, zuviele Sterne zu vergeben (evtl. mit Recht), „Nuggets“ aber schon vom Namen her eigentlich klarmachen sollte, daß hier halt nicht CDs aus dem Keller der Dilettanten an den geneigten Leser gebracht werden sollen, gibt es ab sofort eben keine Sterne mehr. Man stelle sich nur mal vor, was passiert wäre, hätten im Monat X zehn Scheiben den Weg zu mir gefunden, die allesamt für fünf Sterne gut gewesen wären; ich hätte mir dann wohl freiwillig den großen Ohrenknebel verpassen müssen.
Im Klartext: Auch weiterhin sollen in dieser Kolumne nur Veröffentlichungen besprochen werden, die in ihrem speziellen Genre einzigartig sein dürften. Und damit, wie in Heft 2/95 geschehen, keine Sterne mehr als Fixsterne am redaktionellen Firmament verglühen, wird die Astronomie ab sofort wertungsfrei betrieben.
„11 Month In The Bath Of Dirty Spirits“, der Opener von PETER HIMMELMANs „Skin“ (Sony Import BK 57626) betitelter Reise durch die menschliche Psyche läßt schon erahnen, daß hier nicht gewöhnliche Singer/Songwriter-Maßstäbe angelegt werden können. Textauszug: „This must be the place where you learn/what you would not learn on earth“. Nahtlos reihen sich hier Balladen wie „Disposable Child“ und beinharte Rocker wie „Nowhere Else To Go“ aneinander, und in beiden Metiers beweist Himmelman fast mühelos seine exorbitanten Songwriting-Qualitäten. Wie auch bereits auf seinen beiden letzten Alben „From Strength To Strength“ und „Flown This Acid World“, auf denen sich bereits der Weg dieses außergewöhnlichen Musikers der neueren amerikanischen Szene abzeichnete, weiß Himmelman eine Band hinter sich, die sich menschlich wie musikalisch auf einzigartige Weise versteht. „Skin“ ist eine jener Scheiben, die einem auch noch in zehn Jahren von verdrängten Ängsten und Sehnsüchten zu erzählen weiß, ohne dabei auch nur einen Moment nostalgisch zu klingen. Wenn es noch so etwas wie Kult gibt und die Möglichkeit besteht, sich in Musik hineinfallen zu lassen, dann hier! Now Jump!
„Welcome To Struggleville“ (Capricorn 2-42025), die jüngste und fünfte LP der VIOILANTES OF LOVE, könnte und müßte all denen ans Herz wachsen, die noch heute Quicksilver Messenger Service nachtrauern. Gitarrist Newton Carter hat zwar eine völlig andere Technik als Gitarren-Über- vater John Cipollina, doch die Aura, die dieser Musik innewohnt, beweist trotz ihrer Unterschiedlichkeit Seelenverwandschaft mit QMS. Die psychedelische Saat der Bay Area geht selbst im Hinterland von Massachussetts auf. Acapulco Gold auf sechs Saiten. Smoke it! Geheimnisvoll, enigmatisch, mysteriös ist MYRA HOLDER von dieser Welt? Zunächst einmal ein paar Fakten. Produziert wurde „Fowr Mile Road“ (Coyote Rec TTC 88108) von Gene Holder und Chris Stamey (greift hin und wieder auch selbst zur Gitarre). Mit tatkräftiger Unterstützung von Dave Schramm entführt uns Myra Holder in ein Land jenseits aller „babes“ und „girlies“, in dem das Wort „subtil“ noch nicht zur bloßen Floskel verkommen ist. Trotz versponnener Arrangements und fast kammermusikalischer Instrumentierung weiß sie mit einem Album zu faszinieren, das nie Gefahr läuft, auf der Kippe zum Kitsch abzudriften.
Zu guter Letzt noch ein Bonbon für Genießer der etwas heftigeren Gitarre. Eine der herausragendsten Formationen zur Zeit sind mit Sicherheit UNDERBELLY alias Rich Hopkins und Dave Seger, die uns schon seit Jahren mit ständig neuen Band-Namen verwirren und überraschen: Sand Rubies, Sidewinders, Luminarius, Naked Prey sind nur einige der Projekte, hinter denen sich der spirit der Genannten verbarg. Grunge ist es nicht, Rock aber auch nicht, denn das Feedback der Gitarren verhindert das Abgleiten in banale Gefilde. „Mumblypeg“ (Enemy OUT 114-2) bietet Spaß als Gesamtkunstwerk: so avantgardistisch wie tanzbar.