Polly Scattergood :: Arrows

Wie herum? Wie herum? Und schon stürzt die kleine Alice, schwupp, durch das Kaninchenloch und stürzt und stürzt, ohne dass sie zu spüren vermöchte, ob es mit ihr hinunter geht oder hinauf. Sie ist überrascht, aber glücklicherweise nicht überrascht genug, um nicht während des Sturzes unablässig zu singen, während sich um sie herum unablässig alles verändert. „Falling“ heißt dieser herrlich stürzende und steigende und schwebende Song; er findet sich auf „Arrows“(Mute/Goodtogo), dem zweiten Album von Polly Scattergood, der aktuellen Alice im Wunderland des britischen Pop. Mit mädchenhaft schwebender, schön heiserer Stimme und in bedächtigem, jedes Wort prononcierenden Ton singt Scattergood von bewusstseinserwei-

ternden Erlebnissen in bunten Märchenwelten. Sie singt aber auch von der grauen Realität, von Selbsthass und Scham über den eigenen Körper, von tristen Nächten auf erkalteten Laken und dem Wunsch, sich wieder auf den Weg zu machen: eine sonderbare, hoch charismatische Mischung aus Märchenmusik und Paranoia für Mädchen mit soliden Elektrobeats, schön knarzenden Bässen und sich oft prächtig, aber stets ambivalent aufplusternden Elektropop-Arrangements.

Von der ersten Single „Wanderlust“ gibt es auch einige sehr schöne Remixe – etwa von der Londoner Elektropopsängerin Charlotte Aitchison alias Charli XCX, die ihrerseits nun nach drei Jahren reger Single-, Tour- und Remix-Tätigkeit ihr Langspieldebüt „True Romance“(Warner) vorgelegt hat. Was für Scattergood die Wunderland-Fantasy ist, ist für Charli XCX die Science-Fiction: Der erste Song, mit dem sie 2010 auf der Bildfläche erschien, trug den Titel „I Wanna Be Darth Vader“; ob das XCX in ihrem Namen dementsprechend an R2D2 erinnern soll oder doch eher an Ecstasy und Exzess, lässt sie offen. In Songs wie „Nuclear Seasons“ behandelt sie jedenfalls Themen wie Weltschmerz und Liebesleid in der Metaphorik der Post-Doomsday-SF. In der aktuellen Single „You (Ha Ha Ha)“ singt sie wiederum mit einer schön kühlen Gothic-Alt-Stimme über nervösen Beats, die aus Schluckaufgeräuschen und höhnischem Lachen gesampelt erscheinen.

Apropos Alt: Auch die kanadische Gothic-Techno-Operngesang-Gruppe Austra hat ein neues Album namens „Olympia“(Domino) herausgebracht; wie schon auf dem 2011er Debüt „Feel It Break“ schmettert Austra-Sängerin Katie Stelmanis mit ihrer klassisch ausgebildeten Stimme wieder dramatische Arien zu synthetischen Beats. Ein gewisser Hang zur Gediegenheit ist auch diesmal nicht zu leugnen: In „Home“ kombinieren Austra etwa ein heiter groovendes House-Klavier mit einer lieblich tirilierenden Flöte und einem rhythmisch hineingestoßenen Indianerhäuptlings-„Hugh“, was an diese TripHop-Instrumental-Platten erinnert, die zum Sonnenuntergang in Strandrestaurants aufgelegt werden. Das ist aber nicht schlimm, schon be i „Feel It Break“ waren die später produzierten Remixe meist interessanter als die Originale.

Von vornherein toll sind hingegen die fünf Lieder, die die in Berlin lebende Französin Laura Clock alias Butterclock auf ihrer Debüt-EP „First Prom“(Fantasy Music) darbietet. Der geneigten Leserschaft dieser Kolumne ist Butterclock bereits im vergangenen Jahr als Sängerin auf der „No Way Back“-EP des Witch-House-Produzenten oOoOO begegnet; dort schwebte sie geisterhaft schön über zäh sich dahinschleppenden Beats. In ihren eigenen Liedern flicht Butterclock ihre Stimme noch wirkungsvoller in die Klangbilder hinein, etwa in dem sehnend-melancholischen „Milky Words“, in dem der Gesang sich aus einer schaukelnd rückwärts aufgenommenen Melodie zu erheben scheint und immer wieder in dieser versinkt: Wie herum? Wie herum?

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