REPLAYS 2 :: von Matheja & Glass
Auf die CD-Abstinenz der 70er-Jahre-Werke des Shouters Graham Bell haben wir an dieser Stelle schon hingewiesen. Wer die Röhre mit späteren Songs erleben möchte, hat mit der Scheibe von SNOWY WHITE’S BLUES AGENCY dazu Gelegenheit Hier war Bell neben dem Top-Instrumentalisten Terence „Snowy“ White, Kuma Harada (Baß) und Drummer Jeff Allen in einer ganz ausgezeichneten, leider unbeachtet gebliebenen Formation tätig. 18 Tracks (78 Minuten), gekoppelt aus zwei Originalscheiben, präsentieren eine starke Kapelle, in der sich zwei Frontleute als Erste unter Gleichen profilierten. White ist (vergleichbar Chris Rea) einer der unterschätztesten Gitarristen, Bell ist Cocker ohne Quetschen. 4,0 für diese Compilation auf Eagle EABCD103.
Ein vitales Tex-Mex-Paket hat jetzt Edsel Records an Land gezogen: diverse Lizenzübernahmen der „Texas ReCord Company“ des legendären Meisters der Kirmesorgel, Augie Meyers, alle gefertigt zwischen 1975 und 1986. Spielfreude pur von Augie und Consorten (darunter natürlich Doug Sahm) in einer sprühenden Mixtur aus Country, 50’s-Rock’n’Roll und Western Swing; Spaß-Musik als Ausdruck lässigen Lebensgefühls. Durchgehend 3,0 bis 4,0 für „Finally In Lights“ (Edsel EDCD 555) und „Live At The Longneck“ (EDCD 554) von AUGIE MEYERS & THE WESTERN HEAD BAND, für das SIR DOUGLAS QUINTET mit „Live Love“ (EDCD 557), für „My Main Squeeze“ (EDCD 556) von Augie Myers sowie für „Back To The ‚Dillo“ (EDCD 558) von Doug Sahm, Augie Myers & Assorted Friends. Schönes Wiederhören mit Songs wie „Nuevo Laredo“, „Dynamite Woman“, „Purple Haze“, „Suzie Q“, „Deep In The Heart Of Texas“ & Co.!
Kult ohne Ende: Vol. 5 & 6 von „Rare & Raw Beat Front The Sixties“ sind da (Gee-Dee CD 270 143/144). Gerhard Dietrich, Vorsteher des unabhängigen Hamburger Schürf-Labels Gee-Dee-Records, gräbt weiter nach schön Abseitigem aus Germanien sowie Gleichgesinntem aus der näheren Nachbarschaft. So begegnen wir (abwechselnd in „englischer“ und deutscher Sprache) den emsigsten Bemühungen aus Konstanz und Hannover, Beat-Kraftakten von Indo-Holländern und scheppernden Alpen-Rockern. Der Londoner Alt-Skiffler und Rock n Roller Sonny Stewart ist ebenso dabei wie die 5 Torquays (aus denen wenig später die legendären Monks wurden), Gitta äC The Shouters oder die Gloomy Moon Singers feat Frank Zander anno 1965. Neben Bellaphon und Elite Spezial wurden Winz-Labels wie Storz, Scherer, Accordia, Patria und Steyr-Puch geplündert Hier geht es einmal mehr nicht etwa um HiFideüty (strichweise Rumpeln durch Umschnitte von hyperraren Platten), sondern um die Konfrontation mit dem damaligen Musikleben ringsum. Das Resultat ist beinhartes, historisch unverzichtbares Kulturgut, das sich zwangsläufig der Sternchen-Wertung entzieht.
Der englische Kneipen-Rock der Jahre 1972 bis etwa 1976 war nicht nur Heimstatt für gitarrenorientierte Formationen. Auch funkige, mit Bläsern arbeitende Bands wie etwa Kokomo oder die vergessenen Clancy und EBJ. mischten nach Kräften mit im Kampf der Klein-Club-Combos gegen den nur noch unerträglichen Stadion- und Sattelschlepper-Bombast. Speerspitze dieser stilistischen Ausrichtung war ein personelles Großunternehmen namens GONZALEZ. Bis zu rund einem Dutzend wechselnde Spitzenkräfte versammelten sich um so renommierte Edel-Tuter wie Mick Eve, Chris Mercer, Steve Gregory und Ron Carthy. Soul, knalliger Funk und jazzrockige Untertöne prägten das höhepunktarme, aber dennoch gleichbleibend straffe Repertoire, nachzuhören auf den ehemaligen EMI-LPs „Gonzalez“ und „Our Only Weapon Is Our Music“ aus den Jahren 1974 und 1975, die (auf Einzel-CD) jetzt erstmals digitalisiert umgehoben wurden (See For Miles C5 HCD 668; 3,0 ). Anspieltip: „Underground Railroad“, ein ultra-schwitziger Fetzer vor dem Herrn, mit dem erstklassigen Sänger George Chandler in der musikalischen Pole Position.
Apropos Pubrock: Prima Bands wie die Cajun-Schunkler von Brewers Droop, wie die Winkies (mit Philip Rambow), Charlie & The Wide Boys, Eggs Over Easy, Clancy, Roogalator (feat. US-Top-Gitarrist Danny Adler) und natürlich Bees Make Honey warten auch nach über 20 Jahren auf ihre verdiente CD-Premiere in diesem unseren Lande…
Nie mehr warten wir dagegen auf die Evergreens der 70er Jahre. Die ewige Wiederkehr des Gleichen brachte ein sog. Revival der lustigen Scheußlichkeiten. In Amerika war die Nostalgie wohl Anlaß für „Have A Nice Decade – The 70s Pop Culture Box“ (Rhino/Edel Contraire), eine unvergleichliche Kompilationsleistung auf sieben CDs und in fabelhafter Verpackung mit original grünem Häkelteppich, Smiley-Applikation und Chronologie im Booklet Wer in diesem Jahr keine Platte mehr kaufen will, sollte diese sieben kaufen: Boogie Nights für immer. Und ist nicht der erste, unbeschwerte und groteske Teil des Films „Boogie Nights“ wunderbar, wenn Randy Newmans „Mama Told Me Not To Come“ am sonnigen Pool erklingt und die Welt scheinbar nichts kostet? Oder der Soft-Soul von Bobby Womack und den Delfonics in Tarantinos „Jackie Brown“: Lieder, die eine Liebe stiften und ein Jahrzehnt illuminieren, obwohl der Film zu Beginn der 80er Jahre spielt „Brown“ beginnt, wo „Boogie“ endet: in der Depression der frühen Achtziger. Man ahnt bei diesen Filmen, welche Demontagen die Entfesselung von Drogen, Sex und Video angerichtet hat. Und die Musik spricht eigene Bände dazu. Rund 150 Hits sind auf „Nice Decade“ enthalten, wobei kaum einer der bedeutenden Künstler der Dekade vertreten ist: gerade mal David Bowie, Stevie Wonder und Marvin Gaye. Hier geht es nicht um Pop-Historie („die besten Alben“), sondern die Musik des Augenblicks. „Theme From Shaft“, „Kung Fu Fighting“, „Rock The Boat“, „The Entertainer“, „Seasons In The Sun“, „The Candy Man“, „Car Wash“ und das bizarre Moog-Gedudel „Popcorn“ von Hot Butter verströmen die Aura dieser Jahre – nach dem Pop-Theoretiker Walter Benjamin „eine Ferne, so nah sie auch sein mag“ . Versäumen Sie das Glück nicht. 5,0