Seal – System
Der Schmusebär mit den markanten Wangenkerben, Bussi hier im Blitzlicht und Schmatz da. Hat der Londoner sich vielleicht zu bereitwillig von den großbuchstabigen Zeitungen mit adoptieren lassen, inmitten der deutschen Supermodel-Korona, quasi im Doppelpack? Oder hat er einfach zu viele bedeutungsvolle Sätze über Liebe, über Familie und über ewig gültige Werte in die Reporter-Mikros gesprochen? Jedenfalls wurde er zuletzt meistens eher als grundsympathische Multikulti-Celebrity wahrgenommen denn als kompetenter Songschreiber und famoser Sänger. Ja, bedauerliche Fehleinschätzung. Deutlich wurde das oft auf dem Marktplatz vorgeblich musikalischer Drolligkeiten: Gruselig, wie mäßig talentierte Casting-Show-Kandidaten feine Songs wie sein „Kiss From A Rose“ oder „Love’s Divine“ zerjaulten – und unüberhörbar vor allem im Kontrast, wie hoch Seal die Latte stimmlich gelegt hat.
Ähnliche Misshandlungen dürften auch seinen neuen Stücken blühen. Der Mann ist eins mit sich und der Welt, und darum variiert er seine Mittel auch nur im überschaubaren Rahmen. Im Vergleich mit „Seal IV“ hat er das Tempo wieder etwas forciert, Madonna-Produzent Stuart Price unterlegte seine auf der Akustik-Gitarre geschriebenen Lieder mit sanft pochenden Tanzbeats und nostalgischen Synthesizern. „Loaded“, „System“ oder „Amazing“ erinnern mehr an Soft Cell oder Depeche Mode als an White, D’Arby oder Michael. Dazu gibt es auch mal behutsam Rockiges, geschmackvolle Geräusch-Effekte und natürlich, vor allem im seiner Frau gewidmeten „Wedding Day“ und im zärtlichen „Rolling“, diesen geschätzten rauen Schmelz, den neben ihm nur noch Peter Gabriel in der Kehle hat. Originell sind diese blendend in Szene gesetzten akustischen Umarmungen sicherlich nicht, aber, wie wir in dieser Jahreszeit so gerne glauben wollen, unbedingt authentisch. Zynismus ist also unangebracht.