SELIG – BLENDER :: DAS AUGE GOTTES – ZÄRTLICH AUF DIE WUNDEN

Rammstein knipsen die Lichter aus, und Das Auge Gottes blicken auf die Trümmer. „Da kommen die Ruinen einer besseren Welt“, verkehrt Sänger Eiche Reichelt ein Zitat aus der Sozialistenhymne „Auferstanden aus Ruinen“, das sich im Song „Crimetime“ zum späten Abgesang auf die Einheitseuphorie manifestiert. „The honeymoon is over/ & die Festmusik verhallt“, die Trauung ein Verbrechen, die Zukunft ein Versprechen, „wir probieren einfach, was länger brennt/ Eine Gitarre oder ein Klavier/ & das Fegefeuer wartet sowieso/ Es gibt überhaupt nichts zu verlieren/ Komm & wir tanzen deinen Tod weg… das ist die Nacht der Crashtestpuppen.“

Ja, der Osten wurde an die Wand gefahren, das darf auch ein Ossi wie Reichelt sagen, dessen Tenor ihm im Echo jedoch als Jammern ausgelegt werden wird, obwohl er der Ostalgie unverdächtig ist. Daß er als 39jähriger jenseits dieser Welt geprägt wurde, mag den Blick des Wbrtvirtuosen für die Absurditäten und Allgemeinplätze geschärft haben. Rammstein, die wie Reichelt zum Teil aus Schwerin kommen, entfesseln jenen Ekel und Instinkt, den Reichelt mit Ethik und Intellekt fesseln will. Als Antipoden in Ansatz und Absicht ist ihnen aber gemeinsam die Exekution der Moderne, Schmerz und Verzehren, der Bezug zum Ursprünglichen und mystische Metaphorik zwischen Himmel und Hölle. „Du hast Jesus Christus ans Kreuz genagelt“, donnette Reichelt, er forderte „Schweiß, Blut 8C echte Tränen“ und sang: „Zivilisation – einst Zauberformel – ist ein verlor’nes Spiel.“

Vom Vfeltverbessererdrang auf ihrem Debüt „Das Auge Gottes“ fand er bei „Das kleine Leben“ zur Lakonie, indem er die Platitüden und Phrasen der Medien- und Konsumgesellschaft skandierte, auftürmte und zertrümmerte, bis der Wahnwitz kenntlich wurde, die Wunden des Daseins aufklafften, „Zärtlich auf die Wunden“ reflektiert weniger Melancholie. Reichelt keift und giftet, hämt und wütet. „Einer hat sich vor den Zug geschmissen/ Mitten im Berufsverkehr/ Hat uns um unseren Feierabend beschissen/ Gerade wo heute Fußball wär“, klagt er in „Behinderung“ die Betroffenheit mit der Axt ein, zieht sich ins „Selbstgespräch“ zurück und brüllt, er sei „Normal“. Die Diktion seiner Lyrik ist zu verstehen wie die Zeile „Ich bin nur gekommen, um länger wegzubleiben“. In der Sehnsucht nach Integrität hat der Hamlet Reichelt in den Ruinen der besseren Welt seine Identität nicht gefunden. Das gilt, insofern konsequent, auch für die Musik. Es kracht, heult, rasselt, surreale Key boardklänge, milde Hardcore- und Industrial-Elemente, schwerer Funk-Baß, Rockpop. Schön Baß und Piano im schwül-jazzigen, funky-finsteren „Thank You, Satan“ oder die Gitarrenmelodie in „Bleib versteckt“ – aber nichts wächst wirklich zusammen. Der HipHop-Swing von „Mach ma locker“ könnte zum Hit taugen wie „Gibt’s ja gar nicht“, würde nicht alles in bitterer Bühnentheatralik und bei Drehorgelliedern mit Verstärker enden.

Und wie geht’s dem Westen? „Super … wirklich, ey, geil“, grinsten Selig, traf man sie auf irgendeiner Party. Schließlich der Kater. Die Band, oh Schreck, wäre fast zerbrochen am üblichen: Erfolg, Erschöpfung, Entfremdung. Zur Therapie flogen sie nach New York – und sind am neuen Album genesen. Sie haben es „Blender“ genannt, was innige Interpretationen zuläßt (oder eben nichts) und so lässig schwingt wie „Pop“ von U2, zumal ein Lied „Popstar“ heißt und bei „Rauchgemeinschaft“ die Gitarre so ähnlich klingt wie die auf „Discotheque“. Das ist ein Thema, das kann der „Max“-Musikbeauftragte notieren, das ist Trend. „Bild“ nahm „Popstar“ in die In-Liste. Also alles richtig gemacht. Plötzlich: Selig sollen Produzent Franz Plasa gefeuert und sich von Sänger Jan Plewka getrennt haben. Von Drogen wird gemunkelt. Über wen solche Gerüchte lanciert werden, hat es geschafft.

Selig sind nicht so erfolgreich, wie viele glauben, aber besser, als viele meinen. Sie sind euphorische Eklektizisten mit Gespür für Musik und Klamotten, geeignete Fotografen und Videos hatten sie auch. Ihre Karriere, als „gemacht“ bekrittelt, kontern sie ironisch: „Schüler-Rock, einflußreicher Starproduzent, posen, posen, posen.“ Selig waren eher für Plasa, der sonst Biedersinn fabriziert, eine Chance. Nun wollte er den Zeitgeist zwingen. In „Winter“, „Unterm Regen“ oder „Hausprophet“ zwar Jungle, Drum’n’Bass und TripHop enthalten, auch sonst loopt und samplet es hübsch. Größer sind die Gitarren – nicht Franz‘ Elektrofirlefenz dazwischen – bei „Asche im Becher“ und „Fahrstuhlschacht“ sowie der Herzbebenballade „Sie zieht aus“ (so was rührt stets). Alles nur geklaut, aber gewußt wie. Unter deutschen Jungbands sind sie echte Rockstars. Wie es der Mythos will.

Selig blenden kurz. Dann öffnen wir die Augen.

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