T.C. Boyle – Das wilde Kind

Ende des 18. Jahrhunderts stoßen Bauern in den Wäldern von Südfrankreich auf einen nackten Jungen, der offenbar von seiner Familie ausgesetzt wurde und im Wald zu überleben gelernt hat. Victor, so nennt man ihn, zeigt sich unempfindlich gegen Kälte und Hitze, kann nicht sprechen, erkennt sein eigenes Spiegelbild nicht. Ein Mischwesen aus Mensch und Tier, ohne Schamgefühl, zu keiner höheren menschlichen Regung fähig. Man gibt ihn in die Obhut des Arztes und Wissenschaftlers Itard, der ihn nun zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen versucht und dabei auf ganzer Linie scheitert. Victor lässt sich nur sehr bedingt sozialisieren und erlernt auch nur sehr rudimentäre Fähigkeiten zu kommunizieren – und so erfahrt die aufgeklärte Gesellschaft leider nicht, wie man sich so fühlt als „Wolfskind“. Aber wo die Wissenschaft kapitulieren muss, öffnen sich die Simulationsräume der Literatur. Boyle schlüpft in die Rolle des wilden Jungen – und gibt so über die gut dokumentierte Fallbeschreibung hinaus eine Ahnung davon, was er verloren hat, als er unter die Menschen fiel. Eine grandioses Stück historischer Faction-Literatur. (12,90 Euro)

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