Talking Heads :: Chronology

Die neue Sachlichkeit

Als vor Jahren die Alben der Talking Heads in DVD-Audio-Editionen aufgelegt wurden, gab es bei den frühen Platten als sichtbaren Teil jeweils ein paar Live-Aufnahmen. Das war putzig, weil die Talking Heads jene Band waren, die sich am besten auf das Visuelle verstand und später die fantasiereichsten Videoclips und den entscheidenden Konzertfilm der 80er-Jahre produzierte.

Nun sind diese kostbaren Schnipsel, je einen Song lang, auf „Chronology“ gesammelt: Schwarzweiß-Aufnahmen vom Trio ohne Jerry Harrison im CBGB, 1975, mit „I’m Not In Love“ und einer frühen Fassung von „Psycho Killer“, ein Auftritt im britischen „Old Grey Whistle Test“ mit „Don’t Worry About The Government“, Videoaufnahmen vor dem Entermedia Theatre in New York, 1978, sie sind die Band der Stunde, Andy Warhol huscht die Treppe hinauf, in der Garderobe grinsen sie nur verlegen: Sie haben es geschafft.

Ein jovialer Moderator fragt die vier linkischen Studenten im „American Bandstand“, was sie sich denn wünschen. Jerry Harrison will Menschen beglücken. Tina Weymouth will einen Platz in der Geschichte. Ob David Byrne immer so schüchtern sei, lacht der schmierlappige Gastgeber. „I think so“, lächelt Byrne. Er sang von Beamten, von Gebäuden und Essen, vom Glück im Privaten, vom Bücherlesen und von der Wonne, eine Arbeit zu haben. „Some civil servants are just like my loved ones“, säuselte Byrne – ein damals ungeheuerlicher Satz. Die Talking Heads verkörperten den Antagonismus zum Rock’n’Roll; David Byrne nahm alles vorweg, was die Welt heute bestimmt: Geld, Paranoia, Existenzangst, sedierte Affekte, falsche Gefühle. Man dankte es ihm nicht.

1980 standen sie mit dem Gitarristen Adrian Belew und schwarzen Percussionisten auf der Bühne: eine entfesselte Bestie, die den infernalischsten Afro-Funk spielte, den die Welt je gehört hatte. „Crosseyed And Painless“ treibt einem die Tränen in die Augen: Die Postmoderne ist bis heute keinen Schritt weiter gekommen. Als alles vorbei war, brachten sie 2002, ausgerechnet zur Einführung in die „Rock And Roll Hall Of Fame“, noch einmal „Life During Wartime“: „This ain’t no party, this ain’t no disco, this ain’t no fooling around/ Burned all my notebooks, what good are notebooks? They won’t help me survive …“ (Eagle Vision) arne willander

Selten wurde ein Album so einhellig als Platte des Jahres gefeiert wie dieses von PJ Harvey – bei der britischen Musikpresse hat das auch mit gebrochenem Patriotismus zu tun, aber sogar in den USA wurde „Let England Shake“ aufgeführt: 47 Ränge hinter Adele. Seamus Murphy hat zwölf Filme zu den Songs des Albums gedreht: Das Meer, die Ödnis von Canvey Island, verlassene Vergnügungsparks, gewaltige Bäume, Enten im Weiher, Schiffe am Horizont, fahle Felder und Landschaften in Sepiafarben, Wolken und Vögelschwärme illustrieren die Wunderlieder; PJ Harvey spielt die Songs in einem rustikalen Wohnraum mit Geweih an der Wand allein an, dann wechselt die Musik in den Modus des Albums. In Murphys Bildern scheinen die Naturschönheit und Dramatik der britischen Insel elegisch auf – und es schüttelt den Zuschauer vor Ergriffenheit. (Universal) arne willander

Der Wirbelwind, die Kindfrau, das französische Frolleinwunder des vergangenen Jahres: Zaz beginnt ihr Konzert in einer gediegenen Musikhalle, dann wechselt das Bild innerhalb desselben Songs zu einem Open-Air-Festival im Sommer und auf die Wiese einer Alm, später sporadisch zu anderen Konzerten überall in Europa. Es gibt eine DVD der Pixies mit dieser Technik, die Euphorie und Gleichklang belegen soll – was bei Zaz wahrlich nicht nötig ist: Wie Pippi Langstrumpf hüpft sie zu den Klezmer-Chansons ihrer präzisen Band herum, schmeichelt und gurrt mit der immer etwas heiseren Stimme, imitiert eine Tröte und singt auch Balladen innig und überzeugend. Eine Dokumentation zeigt sie in New York mit Songs von Jacques Brel, Serge Gainsbourg und George Gershwin. Das Hauptprogramm (mit dem Feger „Je Veux“!) liegt auch als CD bei. (Sony)

Arne Willander

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