The Low Anthem :: Smart Flesh
Eine atemberaubende Reise durch Raum und Topografie: Die Amerikaner legen ein Klangkunstwerk vor.
Wenn die vierköpfige, missratene Kinderschar bei der Silberhochzeit der Eltern ihr einstudiertes Lied vorträgt – das würde so aussehen wie der jüngste Auftritt der Gruppe The Low Anthem in der Letterman-Show. Mitte Januar war das, sie spielten „Ghost Woman Blues“: Sänger Ben Knox Miller wie der ewige Student mit Boots und Gitarre, Gründungspartner Jeff Prystowsky als Hausmeister mit Maultrommel, die täntchenhafte Jocie Adams mit Klarinette, Mat Davidson, der übers Hackbrett gebeugte Penner. Alle im Halbkreis um das große Gesangsmikrofon, sangen die vier aus Rhode Island so traurig und göttlich, dass allüberall die Lampen zu glühen begannen und es die Einsamen am Rücken schauerte.
Dieses Stück eröffnet nun das dritte Album von The Low Anthem, und hier klingt es anders. Wie ein Echo aus dem Nachbartal. Körperlos, geisterhaft, wie es die Friedhofsgeschichte vermuten lässt, die der Song erzählt. Wo bei Letterman stubenmusikalisch der Dulcimer klirrte, munkeln hier der Standbass und das Klavier, das in einer weit entfernten Kirche zu stehen scheint. Kein Anfass-Folk, sondern mal wieder die kosmische amerikanische Musik: Mit den passenden Argumenten lässt sich ja beides gut bejubeln, das Nahbare und Unnahbare. Obwohl das Publikum zuletzt von Bart-Bands wie den Fleet Foxes oder My Morning Jacket lernen musste, den Hall ganz besonders zu lieben.
Alle Ankündigungen zu „Smart Flesh“ betonten jedenfalls, welch spektakulären Raumklang die verlassene Nudelsoßenfabrik gehabt habe, die The Low Anthem als Studio diente. Man fühlt und hört den Saal tatsächlich, im donnernden, kojotenjaulenden „Boeing 737“, im Country-Walzer „Apothecary Love“, wo die Steel Guitar heiß durch die Luft gleitet. 2009 wurde die als College-Duo gegründete Gruppe mit „Oh My God, Charlie Darwin“ bekannt, pendelte erst noch zum kaputten Roots-Rock, der jetzt nicht mehr vorkommt. „Smart Flesh“ ist dagegen ein ganz atemberaubendes Beispiel dafür, wie ein Album – auch wenn es nicht von den größten Songschreibern der Welt gemacht wird – eine umfassende Reise durch Raum und Topografie sein kann. Eine Führung durch ein großes Haus, mit vielen Zimmern und unterschiedlichem Widerhall, das – Potzblitz! – natürlich Amerika ist. Zwischendurch drückt die Band die Zuhörer wieder nah an Herz und Ohr, im Cohen-haften „Burn“ oder im Titelsong, und bei „I’ll Take Out Your Ashes“ läuft sogar gut hörbar das Radio im Hintergrund. Das dreiminütige „Wire“ ist dann ein Zwischenspiel für zwei Klarinetten, wie man es eher auf einer späten Talk-Talk-Platte vermutet hätte, bevor in „Golden Cattle“ der Pastasoßen-Hall die Dinge wieder zurechtrückt.
Man glaubt es kaum: The Low Anthem, die krude Bande, legen ein Klangkunstwerk vor. Komisch. Kosmisch. (bella union)