The Straight Story :: David Lynch

D; Ier deutsche Filmverleiher hat dem Originaltitel „The Straight Story“ den Satz „Eine wahre Geschichte“ vorangestellt. Damit soll oft die Fallhöhe der Tränen bei Zuschauern von Trivialdramen stimuliert werden. Da David Lynchs neuer Film tatsächlich auf einer wahren Begebenheit beruht, verweist dieses Axiom zudem augenzwinkernd aufs bizarre Schaffen des Regisseurs, der als Sammler abartiger Obskuritäten in seiner Menagerie auch ein Glas mit der Gebärmutter von der Frau des italienischen Trash-Produzenten Dino de Laurentiis stehen hat Seine erbarmungswürdig deformierte Jahrmarkts-Figur „Der Elefantenmensch“ basiert zwar auf den Notizen eines Londoner Arztes, ist letztlich aber monströs und unglaublich wie die Ausgeburt in seinem Debüt „Eraserhead“. In der idyllischen Postkarten-Provinz machte er später mit „Blue Velvet“ das Herz der Finsternis aus. Wer damals als Pubertierender im schummrigen Kino beobachtete, wie Dennis Hopper in eine Atemmaske stöhnt, um nicht vor Geilheit zu kollabieren, und Kyle McLachlan durch den Spalt einer Schranktür spannert, während sich Isabella Rossilini auszieht, musste vom Glauben abfallen. Spookyshit, dieses Leben. Unwahre Geschichten im Wahren also, wie auch Lynchs TV-Serie „Twin Peaks“, jener Ort grausiger Geheimnisse, an dem nichts so ist, wie es scheint – man aber alles für möglich hält „Blue Velvet“ wühlt hinter freundlicher Helligkeit in dunklen Abgründen, die groteske Odyssee von Sailor und Lulu in „Wild At Heart“ ist so grell wie das Fegefeuer, auch „Dune – Der Wüstenplanet“ eine gleißende Hölle, während auf dem „Lost Highway“ die Scheinwerfer in ein tiefschwarzes Loch fuhren. „The Straight Story“ eröflhet mit einem Sternenhimmel, dessen Ewigkeit in Lichtgeschwindigkeit herabstrahlt auf die Endlichkeit und Trägheit des Daseins in der Kleinstadt Laurens, Iowa. Hier Leinwand NEU IM KINObeginnt Alvin Straights Story, die wahre Geschichte des 74-jährigen Witwers, der sich nach zehnjahren ohne Kontakt mit seinem Bruder Lyle versöhnen will, als er von dessen Schlaganfall erfahrt. Obwohl er sich selbst nur noch mit zwei Gehstöcken wackelig auf den Beinen halten kann, koppelt er einen Anhänger für Schlafsack, Benzin, Kaffee und Wiener Würstchen hinter seinen kleinen, klapprigen Rasenmähertraktor der Marke John Deere – und tuckert in sechswöchiger Reise durch zwei Bundesstaaten nach Wisconsin. Lynch zelebriert daran eine wahrhaft anrührende Entdeckung der Langsamkeit Der gemächliche Ritt dieses greisen Cowboys auf seinem schwach motorisierten Klepper ähnelt als Antagonismus zur Hetze der modernen Zeit der Parabel vom Hase und Igel: Wenn Alvin nicht unbekümmert einen Stau verursacht, wird er ständig überholt von Trucks, Bussen, Sportwagen und Radfahrern – trifft jene aber oft am Abend im nächsten Ort wieder. Einmal weht ihm der Luftzug eines vorbeipreschenden Brummis den Hut vom Kopf. Und geduldig verfolgt die Kamera, wie er ungerührt anhält, absteigt, seine Stöcke nimmt, zum Hut schlurft, ihn aufsetzt, ebenso wieder zurückkehrt, sich aufsein Gefährt hockt und feststellt, dass der Motor defekt ist. Auch das weist auf eine typische Obsessivität des Pedanten Lynch hin. Dennoch wirkt nichts konstruiert, ist jenes Nichtige seiner ganz gewöhnlichen Geschichte ohne Fallstricke und falsche Fährten das Ereignis, indem er die Dinge am Rande der Landstraße einfach geschehen lässt. Hier ist alles wortwörtlich straight: das kontinuierlich ruhige Tempo, der nahezu schnörkellose Ablauf der Story analog zum Verlauf der Straßen, Alvins liebenswürdiger, ehrlicher Stoizismus. Er wird dargestellt von Richard Farnsworth, der so hinreizend mit dem Kiefer mahnt, wie man es bei alten Menschen halt kennt, während in seinen schelmischen Augen ruhende Zufriedenheit und ungebrochene Energie zugleich blitzen. Und dass Sissy Spacek als besorgte Tochter beim Sprechen so stottert wie ihr Auto beim Kuppeln ruckelt, umschreibt mit amüsanter Herzlichkeit den Rhythmus in der ländlichen Gemeinde. „Laurens Walking“ heißt eine auf der Fidel gestrichene und der Akustikgitarre gezupfte wehmütige Country-Weise aus dem Score von Lynchs Stammkomponisten Angelo Badalamenti. Lynch filmt dazu die goldgelb blühenden Kornfelder, auf denen Mähdrescher gleichförmige Bahnen ziehen, die schablonenartigen Wege und adretten Holzhäuser sowie dösende betagte Bewohner. Auf einer Liege im Garten liegt eine fette, rothaarige Frau und sonnt sich mit einer Aluminium-Pappe. Als sie aufsteht, verharrt das Bild, bis sie mit einigen Schnittchen zurück ist. Dann ist ein Poltern aus dem Nachbarhaus zu hören. Die Frau reagiert nicht Die Kamera aber bewegt sich langsam an der Fassade entlang zur Hintettür, als würde sich dahinter der Schrecken auftun. „Tenderness can be just as abstract as insanity“, sagte Lynch über die Atmosphäre seines Films. Vom Rasensprenger bis zur lokalen Feuerwehrtruppe greift er Motive früherer Filme auf. Nur ziehen die Fahrbahnmarkierungen des „Lost Highway“ statt mit rasendem Wahnsinn gedrosselt vorüber. Unter anderem trifft Alvin zwei tumbe, zänkische Zwillingsbrüder und eine Frau, die ein Reh zu Tode fahrt und flucht, das sei ihr heute bereits vier Mal passiert. Doch Lynch stilisiert diese Skurrilitäten nicht mehr zur Fratze, sondern streift sie versöhnlich, ab habe er mit diesem sentimentalen Roadmovie auch Frieden mit seiner verhassten provinziellen Herkunft gemacht Dann steht Alvin vor der Hütte seines Bruders. Wirsch ruft er dessen Namen. Lyle (Harry Dean Stanton) tritt erstaunt heraus: „Alvin?“ Sie setzen sich auf die Veranda – und schweigen. Der Augenblick ist so schön, er müsste ewig verweilen, oliver hüttmann

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