Tocotronic :: Digital ist Besser

Doofe Zeiten sind das. Besonders, wenn man als junge Band sein erstes Album veröffentlicht. Wut und Verzweiflung dienen nur der Steigerung des Marktwertes, sogar der witzige Viva-Mann verwendet sie für seine Inszenierung. Soll man sich die Plakette „böse und verwirrt“ anstecken – oder bleibt man lieber draußen und erhebt sich ironisch über den ganzen durchschaubaren Scheiß?

Tocotronic nennen sich die drei jungen Musiker, die jetzt ihr erstes Album veröffentlichen. Die Frage „Mitspielen oder passen?“ aber stellt sich für sie erst gar nicht. Ihre Musik macht sie unangreifbar. Kompromißlose Gefühligkeit und ein kompliziert codierter Humor schließen sich für sie nicht aus, sondern bedingen und ergänzen einander. In bester Punk-Tradition steht der Affekt bei ihnen als Argument – freilich in einem genau reflektierten Rahmen. Die drei Hamburger propagieren radikalen Individualismus.

In „Freiburg“, dem ersten Song der Platte, geifert Dirk von Lowtzow gegen die Radfahrer und Tanztheater-Fans dieser furchtbar freundlichen Stadt, wo alles seine Ordnung hat. Für „Samstag ist Selbstmord“ singt er den Wochenend-Blues. Mürbe mahnt sich die Gitarre durch die Akkorde, angeödet wettert er gegen das Kaffeetrinken und gegen Flohmarkt-Besuche, also jene Dinge, die in ihrer geradezu aufdringlich gemeinschaftsfordernden Funktion von der Vereinzelung während des Wochenrestes ablenken. Wieder so ein singender Neunmalklug?

Überhaupt nicht. Man höre sich nur „Der Freund meiner Freundin“ an! Hier wird ein weiteres beliebtes Motiv der Pop-Musik verwendet. Das Szenario ist bekannt: Man trifft zufällig die Ex mit ihrem Neuen oder die Fast-Ex mit ihrem Fast-Neuen. Oder so. In Anspielung auf einen Film von Eric Rohmer endet die Tragikomödie in einem catchy formulierten Reim: „Um das alles zu begreifen, wird man, was man furchtbar haßt, nämlich Cineast, zum Kenner dieser fürchterlichen Streifen.“

Die Platte umfaßt 18 Songs. Jeder einzelne ist ein Hit. Gut allerdings, daß Tocotronic sie nicht in Form von 9 oder 18 Singles (je nachdem, ob man an die doppelte A-Seite glaubt oder nicht) herausgebracht haben. Denn die Macht von „Digital ist besser“ entwickelt sich über das Auf und Ab der Dramaturgie: Breitwand-Rock steht neben schlicht produzierten Akustik-Stücken. Die verschiedenen Spielarten abseitiger Pop-Musik sind implizit. Einflüsse vom 86er Brit-Noise sind latent ebenso vorhanden wie die von Grunge oder Low-Fi. Tocotronic kennen die Neue Deutsche Welle und wissen, was man als „Hamburger Schule“ bezeichnet. Die schätzen sie, ohne ihr dabei nachzueifern.

Ein Song heißt „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Das könnte für Tocotronic schnell Wirklichkeit werden. Dann ist Schluß mit lustig.

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