Tocotronic :: Kapitulation

Noch da, noch gut - und jetzt sogar mit positiver Utopie

Ja, Freunde, Hamburg rockt doch weiter! Und wie. Und zwar so ausgesucht höflich, so wahnsinnig wohlartikuliert und so rechtschaffen umständlich und fünffach um die Ecke gedacht wie nie zuvor. Allerbestens!

Ähnlich war das schon, als man die drei Spargelspitzen Tocotronic noch für ihre angebliche, holterdipautzende Direktheit lobte. Aber Tocotronic waren auch damals ein Experiment mit steriler Zange, eine Studienarbeit über Punk als bürgerliche Ausdrucksform. Insofern war die Wende vom Langzeitstudenten-Pop zum Vierköpfigen, Phantastischen mit Ph, gerne Verschwurbelten kein Bruch, sondern ein natürliches Drehmoment. Die Einzigen, die erstens noch da und zweitens noch gut sind: ein strategischer Erfolg! Und obwohl sie manchmal so klingen, natürlich sind sie kein Rock’n’Roll.

Auf „Kapitulation“, der achten Platte, werden Tocotronic nun von den fünf kleinen Gitarrenakkorden dafür belohnt, dass sie zumindest ihnen über die Jahre so konsequent treu geblieben sind (vielleicht aus Mangel an Alternativen). Die Griffe geben dieses Mal die erhebendsten Melodien her, schließen einen Ballsaal mit hohem, weichem Hall auf, tollen wie junge Dinosaurier und Smiths-Kinder darin herum, verändern sich in fest und flüssig. Tocotronic sind nicht für Eleganz bekannt, aber so glitzernde Morgentau-Jangles wie „Imitationen“, so perlenklare Märchen wie „Verschwör dich gegen dich“, so windumsauste Waldgitarrenlieder wie „Wehrlos“ muss man erst mal finden, bei aller Naivität.

So paradox wie gleichzeitig schaffen Tocotronic es auch noch, mit „Sag alles ab“ den Punk-Traum zu erfüllen, den sie wohl schon als Kindlein hatten. Und natürlich ächzt und jault Dirk von Lowtzow, spielt den Landjunker und irren Kunstfreund, lutscht die Tollkirsche, singt eckige Konstruktionen wie „Harmonie ist eine Strategie“ und Liebliches wie „Unter dein Bett hat man ein Rosenblatt gelegt“, torkelt durchs Gras und lallt auswendig HP Lovecraft, Dämonen-Buffy, Pasolini, Dante und Wilhelm Reichs Orgon-Theorie.

Das Pamphlet mit der Kapitulation ist freilich nur ein Trick. Diese Platte klingt so süß, weil Tocotronic zum ersten Mal in einer positiven Utopie schwelgen. In einer Sehnsucht nach Allversöhnung, die in der Kleiderkammer der Schwesternschule beginnt und in Sphären endet, an die sie gar nicht glauben. In diesem Nebel liegt auch die Schwäche von „Kapitulation“: dass die Band trotz aller Beredtheit nichts sagt, auf das man sie irgendwie festnageln könnte. Dass sich die Knochen des Programmatischen oft so deutlich durchs rosa Fleisch abzeichnen. Aber das singen sie am Ende ja selbst: „Alles gehört dir/ Eine Welt aus Papier.“

Manchmal, ganz manchmal, haben die klügsten Menschen auch die schönsten Lieder.

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