Ton Steine Scherben – Gesamtwerk
Der alte, unvermeidliche Sermon: Als die Musiker von Ton Steine Scherben 1971 ihre Flexi-Disc mit dem „BVG-Song“ als Protest gegen die letzte Fahrpreis-Erhöhung an Sympathisanten verteilten – da hätten sie die Vorstellung wohl obszön gefunden, dass dieser Song 35 Jahre später als Attraktion auf einem derart gepflegten, wertvollen CD-Boxset stehen würde.
Oder? Hätten sie das vielleicht sogar toll gefunden, weil sich Protest-Ästhetik ja immer auch aus dem Merchandise früherer Revolutionen speist? Und weil der Agitator daher den Wert des Artefaktes schätzt? Diese Ultra-Box mit zehn CDs (drei davon sind doppelt, daher die offizielle Rechnung mit 13 CDs) wurde jedenfalls nur denkbar, weil sich die Spannungen im riesigen Personallager der Scherben in den letzten Jahren sehr entspannt haben.
Seit Rio Reisers Tod 1996 fühlen sich ja die unterschiedlichsten Leute für die Verwaltung seines Erbes zuständig. Reisers engster Freund und Gitarrist R.P.S. Lanrue hatte in diesem Multi-Fronten-Krieg jahrelang den einleuchtenden Vorteil, dass die Originalbänder zu allen Scherben-Alben in seinem Haus lagerten. Warum er die Bänder letztendlich doch den Brüdern von Reiser übergab, ist umstritten – die „Gesamtwert-Box zum zehnten Rio-Todestag sagt auch, dass es eben zehn Jahre gedauert hat, bis sich alle einigen konnten. Fast wie bei Kurt Cobain.
Die von Udo Arndt remasterten fünf Studioalben sind nach und nach schon einzeln veröffentlicht worden, dazu kommen die zwei bekannten Live-Alben. Ein drittes erscheint erstmals in der Box: 16 Aufnahmen von 1982 bis ’84, keine Überschneidungen mit den anderen. Leider heißt das auch, dass es Mitschnitte aus den erhitzten Siebzigern weiterhin nur auf Bootlegs gibt.
Editorisch behutsam wurde die Frage nach Remixes gelöst. Oft haben Hörer und Beteiligte beklagt, wie schlecht die letzten zwei Scherben-Alben abgemischt worden seien – man bekommt sie hier einerseits im klassisch gewordenen Murks-Mix, auf einer zusätzlichen Doppel-CD hat Arndt jedoch die historische Chance genutzt und 22 exemplarische Stücke neu gemischt. Vor allem bei der letzten Platte „Scherben“ treibt einem der Unterschied die Tränen in die Augen.
Letzter Bonus: 17 Raritäten, unter anderem alte Single-Versionen, die BVG-Flexi (mit großartiger Proletarier-Reportage von der B-Seite) und vor allem sechs verblüffend gute Demos aus dem Jahr 1982. Das legendäre Tape, auf dem Ton Steine Scherben angeblich „König von Deutschland“ und andere Songs von Reisers erster Soloplatte spielen, ist leider nicht dabei. Und wenn es einen nur daran erinnert, dass ein Gesamtwerk eh eine kapitalistische Wahnvorstellung ist.