Various Artists – Girl Group Sounds
Angesichts der vielen früheren Girl Group-Sampler von Ace, Rhino & Co. muß die Frage gestattet sein, wieso das Boy Group-Phänomen nie mit vergleichbaren Retrospektiven dokumentiert und gewürdigt wurde. Vermutlich würde so ein Unterfangen schon an semantischen Problemen scheitern. Denn im Grundsatz waren Cnckets, Miracles, Beatles, Jackson Five usw. genauso Boy Groups wie die Hunderte Doo Wop-Kapellen der 50er Jahre. Um sich gar nicht erst auf begriffliche Haarspaltereien einlassen zu müssen, faßte man das mit den „Girl Groups“ bei dieser Rhino-Anthologie sehr weit, indem man zum einen die Blütezeit derselben auf die späten 50er bis mittleren 60er Jahre eingrenzte, zum anderen aber keineswegs nur und ausschließlich weibliche Vokal-Ensembles damit meinte, sondern einen ganz bestimmten Sound, für den legendäre Brill Building-Teams, aber auch namhafte Produzenten wie Phil Spector oder Leiber/Stoller die Archetypen und Blaupausen geliefert hatten.
Auf diese Weise können sie hier auch die total obskure Dolly-Parton-Single „Don’t Drop Out“ präsentieren, die Ray Stevens in klassischem Girl- Group-Sound mit vielen anonymen Mädels im Hintergrund produzierte. Diese den Shangri-Las in vieler Hinsicht stark nachempfundene Aufnahme war ihr einziger, aber höchst ehrenwerter Versuch in diesem „Genre“. Mit der nächsten Single, „Put It Off Until Tomorrow“, wechselte sie für immer ins Country-Fach.
Das war auch eine entschieden weise Entscheidung, denn um 1966 hatte die Girl-Group-Herrlichkeit für immer ein Ende. Supremes-Singles schossen damals ein ums andere Mal sofort an die Spitze der Hitparade. Aber zu diesem Zeitpunkt bedienten sich Holland/ Dozier/Holland nur noch extrem selten der klassischen Sound-Rezeptur. Auch die hier aufgenommene Single „When The Lovelight Stars Shining Through His Eyes“ zeichnete sich 1963 kaum durch die bei Chiffons oder Shirelles unverwechselbaren Klang-Charakteristika aus.
Für dieses Jahre im Werden befindliche Projekt mußte man bei Rhino aus der Not eine Tugend machen. Das definitive Girl-Group-Box-Set wird es nämlich nie geben: Die berühmten, Maßstäbe setzenden Aufnahmen seiner bekanntesten Produktionen in der Gattung von Crystals, Ronettes usw. gibt Phil Spector für solche Sampler nicht her. Lizenzen erteilen auch Firmen wie Abkco oder Cameo-Parkway nicht, die Rechte an vielen wichtigen Aufnahmen jener Jahre halten. Hits wie das von den Beatles sehr geschätzte „Boys“ findet man hier natürlich auch. Aber wie das „Lost & Found“ im Untertitel besagt, legte man gesteigerten Wert auf die Präsentation verschollener und wiederzuentdeckender Aufnahmen, die auch im Fall prominenter Interpreten zu den nicht allseits geläufigen gehören. Also wenn Ronettes, Chiffons, Shangri-Las oder Ikettes, dann Spezialitäten für Neugierige.
Aber Evergreens wie „Terry“ von Twinkle – sie gesteht in der Tex/Mex-Ballade, daß sie ihm untreu war an dem Abend, als er sich mit dem Motorrad zu Tode fuhr – fehlen nicht. Das ganz große Melodrama, im Dezember 1964 Top 4 der englischen Hitparade. Auch nicht Herz/Schmerz-Ohrwürmer wie „When You’re Young And In Love“ von Ruby & The Romantics. „I Have A Boyfriend“ von den Chiffons. Das von Herman’s Hermits nachgesungene „I’m Into Something Good“ von Cookies-Sänger Earl-Jean Mc-Crea, von dem laut Liner Notes bald auch deutsch und chinesisch gesungene Cover-Versionen aufgenommen wurden. Und der Barry Mann/Cynthia Weil-Song „Chic’s Girl“ von vier Schwestern aus Los Angeles, die sich einfach The Girls nannten und – auch das wollen die Liner Notes wissen – die mal auf Bob Dylans Geburtstag spielten. Besonders stolz ist man bei Rhino darauf, daß man mit „I’m Nobod/s Baby Now“ und „Saturday Night Didn’t Happen“ gleich zwei Aufnahmen der angeblich restlos obskuren Reparata & The Delrons zu bieten hat. Aber den wundervollen Jeff-Barry-Heuler, den die Mädels (berühmt für Songs wie „Whenever A Teenager Cries“ oder „The Loneliest Girl In Town“) geschmerzt so groß interpretierten wie die Ronettes ihr flehentliches „Be My Baby“, kennen wir natürlich. Tolle Schmankerl für Kenner: „Can’t Let Go“ im Original von Evie Sands, Klassen besser als die Hollies-Kopie. „Baby, Baby (I Still Love You)“ von den Cinderellas. „Nightmare“ von The Whyte Boots.
Manchmal schummelte man aber bei der Auswahl dann doch, vielleicht um auf immerhin 120 Aufnahmen zu kommen. „Out In The Streets“ von den Shangri-Las war klassische Girl-Group-Folklore aus der Feder von Jerry Barry und Ellie Greenwich, aber nicht Carole King mit der Aufnahme ihres „Crying In The Rain“, vorher schon ein Hit für die Everly Brothers, P.P. Arnold mit ihrer Aufnahme von Cat Stevens‘ „The First Cut Is The Deepest“ auch nicht, und schon gar nicht Cilla Blacks Aufnahme von Randy Newmans „I’ve Been Wrong Before“.
Das wird dann aber auf der 204 Seiten dicken Broschüre, beigelegt der einer Hutschachtel nachempfundenen Verpackung, alles ehrlich dargelegt: Song für Song!