Veit :: von Thomas Harlan
„Ich glaube, ich habe dich verstanden, ich habe deine Kämpfe verstanden, auch die Kämpfe gegen mich.“ Als Veit Harlan dies zu seinem Sohn Thomas sagte, war es bereits zu spät für eine Aussprache. Der Regisseur des antisemitischen NS-Propagandafilms „Jud Süß“ starb 1964 auf Capri. Doch Thomas Harlan, selbst Filmemacher und Schriftsteller und Zeit seines Lebens ein Aufklärer, der das Schweigen über die deutschen Kriegsverbrechen aktiv bekämpfte, was ihm mehrere Verfahren wegen Landesverrats einbrachte, nahm den Faden des gescheiterten Gesprächs noch einmal auf. Bis kurz vor seinem Tod im vergangenen Jahr diktierte er „Veit“. In dem schmalen Band erinnert er sich an die fortwährende Auseinandersetzung mit seinem Vater, dessen uneingestandene Schuld ihn ein Leben lang umtrieb. Auf wenigen Seiten entwirft er nun eine Anklageschrift gegen seinen Vater und gegen sich selbst. Sie ist zugleich eine Liebeserklärung, die um Verzeihung bittet dafür, dass er ihm Treue und Sohnesliebe entzog. Harlan will die Schuld seines Vaters tragen, als wäre sie seine eigene. „Veit“ ist ein beeindruckendes literarisches Zeugnis dafür, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen – für sich und für andere. (Rowohlt, 17,95 Euro) Alexander Müller
von Hans Magnus Enzensberger
Gleichzeitig mit dem „Album“, einer etwas protzigen Collage aus Altem und Neuem, Fremdem und Eigenem, Text und Bild, erscheint dieses eher schlichte Nebenwerk, das inhaltlich umso reizvoller ist. Enzensberger stellt hier eine ebenso kurzweilige wie lehrreiche Anthologie seiner unvollendeten Projekte zusammen, eine Revue des Scheiterns, die einiges verrät über die Spielregeln und Usancen auf den unterschiedlichen Marktplätzen (Kino, Oper, Theater, Zeitschriften- und Buchmarkt), aber dann doch nicht so viel, wie man sich das manchmal gewünscht hätte. Enzensberger ist eine viel zu gewiefte Betriebsnudel, als dass er nicht wüsste, welchen abgesprungenen Mäzen, Produzenten oder Verleger man mit vollem Namen nennen darf oder auch nicht. Polemik erspart er sich ganz, will ja auch kein schlechter Verlierer sein, sondern skizziert stattdessen so charmant und bezwingend seine Fehlschläge, dass man einige, vor allem seine diversen verhinderten Zeitschriftenprojekte, tatsächlich nur bedauern kann. (suhrkamp, 19,90 Euro) Frank Schäfer
von Uwe Timm
Vier Studenten sitzen in München Mitte der 60er-Jahre Mittag für Mittag am titelgebenden Freitisch einer spendablen Versicherung und reden sich die Köpfe heiß über die langsam in Fahrt kommenden Zeitläufte – und über Arno Schmidt. Der angehende Mathematiker mit Spitznamen Euler, ein echter Addict, der dem Meister hinterherzuschreiben versucht, überredet den Erzähler, nach Bargfeld zu pilgern, wo er mit einem Trick die gewünschte Audienz, aber leider keine Absolution bekommt. Der alte Grantler zerreißt seine literarischen Versuche in der Luft. Der Schmidt-Epigone macht nun lieber Karriere in der Abfallwirtschaft. Über 40 Jahre später treffen sich die beiden wieder. Euler will vor der Haustür des einstigen Kommilitonen eine Giftmülldeponie errichten lassen. Noch einmal sitzen sie zusammen zu Tisch und halten nostalgisch Rückschau. Timms „Novelle“ ist eine Hommage an Arno Schmidt mit einer gewissen formalen Affinität zu dessen Kurzromanen. Er umschifft hier zwar ganz elegant die Klippe der Epigonalität, indem er seine eigene Erzählstimme nicht verleugnet, aber genau das ist das Problem: Für eine richtige Huldigung hätte er die Wortschraube ruhig noch ein paar Umdrehungen anziehen können. (Kiepenheuer & Witsch, 16,95 Euro) Frank Schäfer
von Georg Meier
Ein paar dieser Storys spielen in der Gegenwart, die schlechteren. Das ängstliche Unterschichten-Kind, die beiden Kleinkriminellen, die abtauchen müssen, weil sie Drogengeld abgezweigt haben, der überarbeitete Firmenchef, der im Urlaub bemerkt, dass er ohne Arbeit gar kein Leben mehr hat – das sind Abziehbilder, keine echten Menschen. Überzeugender sind Meiers Geschichten, wenn sich seine Erzähler, die mit dem Autor zu einem nicht geringen Teil übereinstimmen, an die Sechziger erinnern, an ihre wilden Jahre als ausbruchswütige Landeier mit der großen Sehnsucht im Herzen. Hier weht einen der vergangene Zeitgeist an, hier kann man ein bisschen nostalgisch werden, auch wenn man diese Zeit gar nicht erlebt hat. Aber solche Vintage-Authentizität hat stets ihren Preis. Ein Gefühl, wie wenn man in alten Musikmagazinen blättert. Diese Storys klingen, als wären sie vor mindestens 30 Jahren geschrieben worden. Jörg Fauser, den Meier hier ganz offensichtlich beerben will, ist auch manchmal schwer erträglich mit seiner unironischen Virilität, seinen abgestandenen Hardboiled-Phrasen und Macker-Plattitüden, aber ihn kann man entschuldigen. Er ist nun mal fast 25 Jahre tot, Meier schreibt im Hier und Jetzt über eine Vergangenheit mit all ihren längst auf der Strecke gebliebenen Sprüchen und Floskeln. (Dittrich, 19,80 Euro) Frank Schäfer
von Mark Watson
Alles hängt zusammen in Mark Watsons drittem Roman. Weil das Kind der Restaurantkritikerin in der Schule gemobbt wurde, schreibt sie vernichtende Zeilen über eine spanische Lokalität, die wiederum dazu führen, dass der Tellerwäscher gefeuert wird. Dieser klaut aus Geldmangel ein Smartphone, das durch ein derart unhandliches Handy ersetzt wird, dass eine SMS an den falschen Adressaten gerät, der daraufhin seine Therapeutin zu einer Art Amoklauf treibt … Irgendwann trifft im Domino der Ereignisse das elfte auf das erste Leben – mit unabsehbaren Folgen.
Das englische Multitalent Mark Watson (31) stammt aus der Comedy-Szene, bezeichnet sich aber als Pessimisten, der es mal mit Optimismus versucht. In seinem ersten ins Deutsche übersetzten Buch glänzt der Autor mit äußerst subtilem Humor und haargenauen Beschreibungen des Alltags und menschlicher Eigentümlichkeiten. Ein Buch, das sich liest, als hätte es sich von ganz alleine geschrieben, und einen neuen Blick auf die Dinge ermöglicht: “ Alles hat die Chance, von Bedeutung zu sein.“ (eichborn, 19,95 Euro) Frank Lähnemann