Weltmusik von Steve Lake
Diesen Monat geht es an dieser Stelle ausschließlich um den guten alten Reggae. Jeder meint zu wissen, was das ist, aber tatsächlich waren und sind die schleppenden, hypnotisierenden Rhythmen der jamaikanischen Musik Motor für ein ungeheuer breites Spektrum textlicher Aussagen und musikalischer Einfalle. Drei neue „Best Of-Sampler stellen das wieder einmal unter Beweis.
BUNNY WAILERs „Retrospective« (3,5 , Shanachie 45021) gibt einen Überblick über die Solo-Arbeit des letzten noch lebenden Mitglieds der Original-Wailers. Bunnys Ruf als „mystischer“ Denker der Band – im Gegensatz zu dem Polit-Utopisten Marley und dem wütenden Tosh – entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als PR-Erfindung.
Dieser Wailer hat sein Mäntelchen, wenn auch vorsichtig, nach den wechselnden Winden der Reggae-Mode gehängt – und das ist ja auch kein Verbrechen. Auf jeden Song mit „Zurück zur Natur“-Beschwörungen oder einer Spur rebellischen Protests kommen zwei, die auf Mainstream-Disco getrimmt sind. Man fragt sich, ob in dem Stück „Conscious Lyrics“, in dem er seine Songschreiber-Kollegen auffordert, mehr Augenmerk auf die wichtigen Themen zu legen, nicht ein wenig Selbstkritik steckt.
Von den Musikern, allen voran Bassist Robbie Shakespeare, gibt es dagegen durchweg Erfreuliches zu hören, und wenn Bunny mit dem Herzen wirklich dabei ist, können die Ergebnisse sehr bewegend sein – ganz besonders bei seiner Version von Bob Marleys „Redemption Song“.
„An Even Harder Shade Of Black“ von SANTIC & FRIENDS (3,5, Pressure Sounds/EFA 18761) ist eine Kollektion früher Produktionen von Leonard „Sande“ Chin. Da die ursprünglichen Master-Tapes nicht mehr auffindbar sind oder, in Jamaika wahrscheinlicher, gefälscht und wiederverwendet wurden, hat man alte Singles neu abgemischt.
Das läßt dieses Album zwar mitunter zu einer ziemlichen Low-Fi-Angelegenheit werden (besonders getrübt ist der Hörgenuß bei King Tubbys „One Heavy Duba“, wo die verwendete Platte offensichtlich eierte), was aber durch seinen historischen Wert mehr als wettgemacht wird: Das Material stammt aus jener aufregenden Periode, als kommerzieller Pop-Reggae – es gibt hier schöne, honigsüße Balladen von Horace Andy und Gregory Isaacs – allmählich wilden Experimenten am Mischpult weichen mußte und die Erfinder des „Dub“ (King Tubby, Augustus Pablo und andere) Furore machten.
Nur die pumpende bass line entgeht den Echoschwaden; andere Instrumente tauchen plötzlich aus dem Mix auf und gehen ebenso unvermittelt wieder unter. In England wurde Dub mit offenen Armen aufgenommen, und mit Adrian Sherwood am Mischpult klang das Ganze oft nach einem total abgehobenen Science-Fiction-Soundtrack. Auf CREATION REBELs „Historie Moments Volume H“ (4,5, On-U-SoundV EFA 18674) aus den Jahren 1979/80 schafft Sherwood Klang-Landschaften, von denen Pink Floyd nur träumen können. Rückwärts abgespielte Schlagzeug-Tracks, Spielereien mit der Band-Geschwindigkeit, unterschiedliche delays auf den Instrumenten, alle Regeln über Klangverteilung im Stereo-Panorama auf den Kopf gestellt – radikale Musik eben.
Dub war in vielerlei Hinsicht ein extremerer Angriff auf etablierte musikalische Werte als Punk, obwohl es Berührungspunkte gibt, die heute nur noch selten diskutiert werden. Die Anwesenheit von Public-Image-Gitarrist Keith Levine auf zwei Tracks ist kein Zufall: Englische Punk-Musiker, die ein bißchen über den Tellerrand der eng begrenzten eigenen Vifelt schauen konnten, bemühten sich emsig, von den Dub-Innovatoren zu lernen. Mittlerweile hat sich Dub als Technik vollkommen vom Reggae emanzipiert und wird gar von jüngeren Freistil-Ensembles wie Tortoise benutzt.