Wire – Pink Flag/Chairs Missing/154
Mal 28, dann schon 41 oder auch 52 Sekunden dauernd, waren die „Songs“ der Debüt-LP von Wire mitsamt ihrem rigoros durchgehaltenen Lo-Fi-Konzept so auf die Quintessenz einer Idee reduziert, dass die Aufnahmen des Ramones-Debüts ein Jahr vorher vergleichsweise fast schon wieder epische Qualitäten aufwiesen. Gleich sechsmal unterboten sie die Spieldauer von einer Minute, und weitere neun Aufnahmen qualifizierten sich mit unter zwei Minuten nicht mal für die Mindest-Spielzeit einer Single. Die Idee, mit drei Akkorden im Zweifelsfall auszukommen, hatte man bei amerikanischen Vorbildern geklaut. Englische Kollegen – Bands wie Sam Gopal oder Hapshash And The Co-Ioured Coat — hatten das in den späten 60er Jahren ebenfalls gelegentlich versucht, besagte drei Akkorde dann aber auch schon mal eine ganze LP-Seite lang gespielt! Das war nämlich ein musikalisch mehr aus dem Mittleren Osten und von bestimmten Drogen inspirierter Miniumalismus. Dagegen klingt so was wie „The Commercial“ von Wire, heute wieder gehört, wie eine flüchtige Idee von Pete Townshend, anderes wie eine kurzfristig abgebrochene Probe von Clash und einiges doch klar nach Ramones. Einmal vom Chef des Harvest-Labels unter Vertrag genommen, wohl auch weil sie absolut kein proletarisches Flair auszeichnete, niemand in der Band an politischen Botschaften interessiert war und das Quartett mit seiner ganz eigenen „Wall-of-sound“-Ästhetik zum Progrock-lmage des Labels passte, wurde „Pink Flag“ sofort als ein intellektuelles Statement mehr gepriesen denn als ein strikt musikalisches Ereignis. Mehr noch als Punk-Rock-Klassiker der Zeit werden Wire ja gern als Kronzeugen in Haft genommen für die These, dass rudimentäres Beherrschen eines Instruments nicht vor musikalischer Genialität schütze. Auf dieser Annahme basierte immer der ganze Geniekult um dies Quartett, das sich zwei Jahre später schon wieder auflöste, als man sich bar aller neuen Ideenvollkommen ausgebrannt fühlte.
Aber erst kam mal „Chairs Missing“ (5), und da konnte man auf die Idee kommen, dass sie – etwas ehrgeiziger mittlerweile, was das spielerische Vermögen betrifft – sich nach Velvet Underground, Ramones und Patti Smith Group auch schon mit anderen neuen Bands wie Television befasst hatten. Für die Art dieser Produktion, auf die sie sich hier einließen, gibt es im Englischen den schönen Begriff sophisticated. Wer den – ‚tschuldigung –
zielstrebig praktizierten Primitivismus der ersten Platte als die eigentliche und originärste Leistung der Band betrachtete, fand das Zweitwerk fast schon etwas dekadent. Statt wie Jim Morrison bei „Back Door Man“ endlich loszubrüllen, erklärt Colin Newman zu den gut drei Minuten lang währenden zwei Gitarren-Akkorden von „Heartbeat“ (nicht der Buddy Holly-Song) nur immer wieder „I’m sublime…“, „I feel empty…“ usw., um dann nur noch endlos „…like a heartbeat“ zu wiederholen.
Dagegen war „Outdoor Miner“ schon wieder ein richtiges Stück Pop-Klassizismus, gegen das sie doch eigentlich angetreten waren. In den Liner Notes wird das jetzt als „as perfect a slice of State of the art pop as it was possible to produce in 1978“ bezeichnet. Das mit „art“ kann man getrost vergessen. Das war Pop, egal wie beliebt und einflussreich Wire ansonsten auch bei der deutschen Art Rock-Gemeinde wurde. (Noch jeder Talking Heads-Song war 1978 um einiges „artier“ als „Outdoor Miner“.) Aber der geplante „Top of the Pops“-Auftritt damit fand nie statt, weil die Band nicht wollte. So was ärgert eine Plattenfirma denn doch, die davon lebt, dass Geld reinkommt. Denn so schaffte es die Single gerade mal bis auf Platz 51 der Hitparade, die LP trotz allen Kritikerlobs in Funk und Presse nur bis auf den 48. – für eine einzige kurze Woche! Da war Knatsch programmiert.
Mit Chören, noch viel mehr Synthesizern und ganz üppigen production values war „154“ (4) dann eigentlich schon ganz gewöhnlicher Prog-Rock, allerdings doch von höchst fantasievoller und so hochkarätiger Machart, dass endgültig alle Kritiker querbeet Jubelhymnen anstimmten und fast schon ein wenig Mainstream-Verdacht aufkommen konnte. Selbst mit so was wie „Map Red 41″ N 93″ W“ hätte man jetzt langsam eine breite Fan-Basis aufbauen können. Aber mit Samples (von „Three Girl Rhumba“) und Songs („The I5th“) sollten später andere ausgewachsene Hits haben.
Von Harmonie konnte in der Band bei der Produktion der dritten LP längst keine Rede mehr sein, und ohne Unterstützung der Plattenfirma wurde das Unternehmen Wire für die nächsten Jahre ein kommerzielles Desaster. Aber vom Ruhm dieser nun remastered vorliegenden Anfangsjahre nährt sich ihre Legende für immer.