Yin Yang von Christian Salvesen
Aufmerksamen Fußgängern ist sicher nicht entgangen, daß der chaotische Lärm verkehrsreicher Straßen oft durch ein gleichmäßiges, dumpfes Pochen strukturiert wird. Es kommt aus den Lautsprechern von Autoradios und wird von Kennern als Trancebeat klassifiziert. Ethnologen können bestätigen, daß dieser beängstigend gleichförmige Rhythmus ursprünglich bei Stammesritualen von Schamanen geschlagen wurde, um veränderte Bewußtseinzustände auszulösen. Ob die moderne elektronische Variante eine ähnliche Wirkung hat? Fans von Techno und House sind davon überzeugt. Die musikalische Qualität kann nicht am monotonen Grundschlag gemessen werden. Das ist, um die Yin-Yang-Weisheit einmal konkret einzusetzen, gewissermassen nur der eine Pol, nämlich der männliche. Den anderen, weiblichen Pol bilden in der Regel die elektronischen Klangräume, die in Richtung auf „Ambient“ an Weite und Differenziertheit gewinnen. Ein seltenes Beispiel für die Ausgewogenheit der Gegensätze ist „Terra Incognita“ von EARTH NATION (Eye-Q/WEA). Der Beat aktiviert den Körper, gerade genug, um den Kopf freizumachen und das Bewußtsein für die immer feiner werdenden melodischen und harmonischen Strukturen zu öffnen. 3,0
Auf FREAKY CHAKRAs Maxi-CD „Budded On Earth To Bloom In Heaven“ (Astralwerks/EFA) soll die Stimme von Toni Halliday den weiblich-weichen Kontrast zum Trancebeat liefern, der sich hier aber als wabernder Elektrosmog über den gesamten Klangraum ausdehnt und kaum Space läßt. Der poetische Titel ist möglicherweise ironisch gemeint, denn wie heißt es doch in den sechs Remixen ein und desselben Songs: „I live in a world füll of dreams.“ Zeit, aufzuwachen.2,0 Je melodischer und harmonischer die Musik, desto eher scheint sie jedoch zum Träumen gedacht Das suggeriert zumindest der Titel des von KENNETH BAGER zusammengestellten Samplers „Mustc For Dreams -A Difjerent Ambient Compilation „(Kosmodrom/Polydor).
Aber wie soll man so unterschiedliche Musik wie die von Brian Eno, Enigma, Jhelisa, LDC, WOOB, Korgis, Pushkar u.a. auch unter einen Hut bringen? Zum Einschlafen ist sie jedenfalls zu gut Und Jam 8C Spoons Instrumental-Stück „Hispanus In Space“ schafft mit seinen eigentümlichen, in die Stille verhallenden Flamenco-Gitarrenläufen, dem Vibrieren der Rahmentrommel und den wehenden Sphärenharmonien eine surreale Atmosphäre jenseits von Traum und Wachzustand – eine unvergeßliche, rätselhafte Musik. 4,0
Von einer ganz anderen Seite nähern sich der Jazz-Trompeter und Obertonmusiker CHRISTIAN BOLLMANN, die indische Sängerin ARUNA SAYEERAM und Multi-Instrumentalist MICHAEL REI-MANN dem magischen Raum der Stille. Auf „Arvma -Thousand Nantes Of The Divine Mother“ (Lichthaus/ Aquarius) verschmelzen rhythmisch verwobene Sanskrit-Rezitationen, mittelalterliche Kirchenorgel-Harmonien, Didgeridoo und die ungreifbaren und zugleich so präzise eingesetzen Obertonmelodien zu einer überkonfessionellen Liturgie. Die Lieder in Hindi und Tamil, von ausgefallenen Instrumenten wie Muschelund Drachenhömern, Wassertrompete oder Wassertrommel begleitet, singt Aruna mit Charme und Andacht; der löminütige, sehnsuchtsvolle Raga Kaljani, mit weicher, tiefer Altstimme gesungen und harmonisch verfeinert durch Santur-Akkorde, Blockflötenmelodie und virtuosen Obertongesang, hat mich berührt wie bisher kaum ein Musikstück. Hier treffen nicht Extreme aufeinander, vielmehr strömen Ausdrucksformen verschiedener Kulturen zusammen in einem aufgeweckten, feinfühligen Bewußtsein. 4,5
Meditation bedeutet wache, kreative Entspanntheit Falls Musik einen solchen Zustand anregen möchte, sollte sie weder hektisch noch lahm, weder platt noch kopfig, sondern vor allem lebendig sein – wie die dynamischen Linien der japanischen Bambusflöte auf MA DEVA YOKOs „Fottow Bamboo“ (Fönix Music). 3,5