Rolling Stone Weekender: Und so war’s 2010…

Arne Willander geht nicht auf Festivals? Quatsch. Hier noch einmal die persönlichen und mitunter recht unkonventionellen Rückblicke der Redaktion auf unser Hausfestival am Weissenhäuser Strand im vergangenen Jahr.

Das kommt dabei raus, wenn man die Redaktionsmitglieder des Rolling Stone bittet, ihre persönlichen Erlebnisse und/oder Glücksmomente des Weekender-Wochenendes niederzuschreiben. Statt der „bestellten“ Kurztexte mit Zeit- und Ortsangabe findet man sich plötzlich in komplexen Nacherzählungen oder in amüsanten Streifzügen wieder, die nicht nur vor die Bühne sondern auch mal auf dunkle Parkplätze oder in tiefergelegte Restaurants führen. Aber um ehrlich zu sein, war’s dann genau die Mischung, die den Herren Onliner am Ende überzeugte. Und ihn selber dazu brachte, auf die Stilvorgaben zu pfeifen. Deshalb hier ungekürzt und unfrisiert: der etwas andere Blick auf unser Hausfestival Rolling Stone Weekender, in dem Maik Brüggemeyer den Robert Plant unter den Schriftstellern trifft, Joachim Hentschel einen Husky, Birgit Fuß die Sänger der schönsten Liebeslieder und Arne Willander den real existierenden Leser. Max Gösche outet sich derweil mit Leidenschaft als Frühvergreister und Daniel Koch erzählt „Apartment Stories“ mit und ohne Alkohol. Warum es das jetzt hier noch mal zu lesen gibt? Weil heute die ersten Acts für 2011 bekannt gegeben werden…

 

„Der Robert Plant unter den Schriftstellern“ – von Maik Brüggemeyer
Im Weekender-TV-Kanal erklärt der Musikexperte Tim Renner, Herbert Grönemeyer sei der Paul McCartney des deutschen Pop und Marius Müller-Westernhagen der John Lennon. Kurz danach muss ich den Fernseher leider ausschalten, weil schon Midlake, die Rodgau Monotones der US-Indie-Szene, aufspielen, gefolgt von Schottlands Antwort auf die Gruppe 47, Teenage Fanclub, dann der Tucholsky aus Tucson Howe Gelb und schließlich der deutsche James Brown Sven Regener mit seinen J.B.’s, die sich Element of Crime nennen. Als ich spätnachts ins Zimmer zurückkomme und den Fernseher einschalte, ist die deutsche Lady Gaga Tim Renner immer noch dran und bekräftigt ihre Einschätzung mit weiterem Expertenwissen.

Am nächsten Tag steht der Robert Plant unter den Schriftstellern, der Hamburger Autor Frank Schulz, auf der Bühne. Er ist ein bisschen wacklig auf den Beinen von einer zweiwöchigen Lesetour, gibt uns aber ein paar superbe inch of his Erzählungsband „Mehr Liebe“. Man weiß natürlich aus der „Hagener Trilogie“ um seine Kunstfertigkeit, die Mysterien und Epiphanien des Heranwachsens wortmächtig und eindrücklich zu bannen, aber vorbereitet ist man trotzdem nicht auf das, was folgt, als er anhand von vier Songs, die er mit Rap-, Gesangs- und Trommeleinlagen erstehen lässt, eine, viele längst vergangene Adoleszenzen wiederbelebt. Er berichtet wie eine Clique aus 14-Jährigen den ersten Kuss in freier Wildbahn erlebte, als Dieter Fotzenschuch und Sylvia Görritz zu Hot Chocolates „I Believe (In Love)“ schwoften. Wie bei anderer Gelegenheit die Jungs um den „Hagener Trilogie“-Helden Bodo Morten zu Led Zeppelins „Black Dog“ abgingen (während die Mädchen lautstark „One Way Wind“ von den Cats forderten), und wie eine falsch gehörte Zeile aus J. Bastós‘ „Loop-di-Love“ einem Halbwüchsigen über „Zwerch-, Rippen- und Hodenfell“ perlte.

Am Ende der Lesung ist der Kreislauf des Autors wieder in Schwung. „Wollte gestern eigentlich noch 1, 2 Fernseher ausm Fenster werfen, bin dann aber doch um 12 eingeschlafen“, schreibt er am nächsten Tag. Vielleicht ist er doch nicht der deutsche Robert Plant, aber wer solche Texte hat, braucht keine Windmaschine, um geliebt zu werden.

 

„Nicht in die Augen schauen!“ – von Joachim Hentschel
Weißenhäuser Strand, Parkplatz vor den Apartments „An der Düne“, 14.11., 3 Uhr 15: Im Blick des Hundes, den man nicht erwidern durfte, kulminierte der Samstag. Eben hatte ich noch im Zelt gestanden, bei The Gaslight Anthem, wo es plötzlich richtig festivalvoll war, man komischerweise aber trotzdem bis ganz eng an die Bühne gehen konnte. Wo auf einmal all die schlanken kleinen Indie-Abiturienten zu einer gut sichtbaren, erregten Masse zusammendiffundierten – vorher hatten sie sich wohl einzeln hinter den Gummibäumen der Passage versteckt gehalten.

Ich wartete auf mein Lieblingslied, alles klang gleich, was aber den Vorteil hatte, dass auch alles wie mein Lieblingslied klang. Der Sänger machte einen Zwischenrufer zur Sau, er solle doch erstmal 14 Jahre lang Gitarre üben und es auf eine Bühne wie diese schaffen, dann dürfe er hier gerne reden – ob die Asiatin, mit der sie ihn beim Einkaufen gesehen hatte, wohl seine Freundin sei, fragte bang ein rotwangiges, ansonsten sehr bleiches Mädchen mit Wollmütze neben mir.

Weil die Cowboy Junkies von der Straße aus wie eine jammende Schülerband klangen (was ein lachhaft falscher Eindruck war, wie Maik und Max später richtigstellten), gingen wir rauf ins Witthüs, wo sich die großen Reste gesammelt hatten, die nichts gegen den Jugenddisco-Sound und den vielen Rauch unter niedriger Decke hatten. Ich erkannte Bloc Party nicht und fragte mich, was an normalen Samstagabenden hier wohl stattfindet: Bingo-Turniere? Entertainer mit Orgel? Und werden die Wochenenden am Weißenhäuser Strand vielleicht immer so ablaufen, wenn all die aufgeweckten Studenten hier mal in Rente gehen, im Jahr 2060? Sie werden Bloc Party und Gaslight Anthem dann noch mögen.

Im Dunkeln auf dem Parkplatz, ohne Wind, fast ohne Regen, stand dann auf einmal die junge Leserin mit ihrem Husky vor mir. Wolfgang Doebeling, den ich im fahlen Schein des Mondes schemenhaft erkennen konnte, war auch da. Pedro sei ein sehr spezieller, oft problematischer Hund, sagte die Besitzerin: Man dürfe ihm zum Beispiel nicht in die Augen schauen. Sie sagte nicht, was sonst passieren würde. „You lookin‘ at me?“ antwortete ich, falsch aus „Taxi Driver“ zitiert. Ein wunderschönes, hellwolliges Tier. Auch Doebeling hielt ein wenig Abstand, mit leisem, herrlich leisem Respekt.

Und wen hast du am Samstag so gesehen? John Hiatt, Get Well Soon, Tindersticks, Blitzen Trapper, Gaslight. Nur Pedro nicht. Den darf man nicht ansehen.


„Der Frühvergreiste fängt den Wurm“ – von Max Gösche

„Auf Festivals geht man ja nicht, um Musik zu hören“, lautet ein in einschlägigen Kreisen gern verkündetes Bonmot. Wahrscheinlich ein Grund, warum ich so selten hingehe. Nun dienen beim RS-Weekender statt matschigen Wiesen und großer Bühnen ein lauschiges Rondell, ein Zirkuszelt und ein alt gedienter Festsaal als Veranstaltungsorte. Auf dem Programmheftchen steht „Das Indoor-Komfort-Festival“ – also genau das Richtige für frühvergreiste Mittzwanziger wie mich. Der Samstag ist denn auch ganz der gediegenen Liedkunst beschieden. Mit John Hiatt, Tindersticks und den wunderbaren Cowboy Junkies spielen gleich drei meiner Lieblinge. Hiatt singt mit seiner – jawohl knarzigen(!) – Stimme „Alone In The Dark“. Und „Cry Love“ „ist die beste Performance, die ich bisher auf diesem Festival erlebt habe“, raunt mir ein Kollege später ins Ohr. Ein anderer Kollege ist hinterher gar nicht so begeistert, spricht von „alten Männern mit Schiebermützen, die immer dieselben langweiligen Soli spielen“. Mein Herz ist gebrochen. Auch wenn Geschmäcker verschieden sein mögen.

Aber wieder einiges dazu gelernt: Manch einer bemisst den Wert von Musik noch nach Bühnenbrimborium und visuellem Schnickschnack. Andere hören drei Minuten vom The National-Gig und befinden: „Absolut großartig. Schwieriger ist da schon die Bewertung des anderen Geschlechts: „Ich würde sagen, dass ist ne glatte 8.“ „Mmmhh…ich gebe 7 von 10.“ Das sind dann doch die Festivalgespräche, die man von größeren Openairs kennt. Doch jetzt schnell weiter, vorbei an den Plastikpalmen in die muntere Zeltsause von Biffy Clyro. Zwei Typen in rosaroten Leggins, Oberkörper frei, die blonde Mähne vorm Gesicht baumelnd spielen als „Indie“ getarnten Schweinerock und bringen damit das weibliche Publikum in Wallung. Eine Frau neben mir bricht bei den ersten Tönen in lautes Gelächter aus. Ich auch.

Wenig später bei den Tindersticks im Festsaal sitzen Leute in ohnmächtiger Stille auf Sitzsäcken oder wiegen mit geschlossenen Augen zu Stuart Staples flehentlichem Barmen im Takt. Auch ich schließe für einige Songs die Augen, um für ein paar Momente dieses 80er-Jahre-Familienurlaubs-Gefühl loszuwerden und mich der zerrissenen Schwermut von Stücken wie „Tyed“ hinzugeben. Das ist er gewesen, mein Festivalhöhepunkt, denke ich, mir des Ausmaßes meiner unumkehrbaren Frühvergreisung vollständig bewusst werdend. Anderen war es hier schließlich einfach nur warm. Vielleicht hilft da die Zukunft des Rock’n’Roll, denke ich und stürme zurück zum Zelt. Aber dann sind es nur The Gaslight Anthem. Ein pflichtbewusster Security erteilt meiner blonden Begleitung nach einem mir entgangenen Wortgefecht „Zeltverbot“ und geleitet sie unsanft zum Ausgang. Als ich ihn daran zu hindern versuche, werde auch ich rausgeschmissen. „Glasflaschen nicht erlaubt“, heißt die Order. Ach so, ich beginne zu verstehen und nehme zum Beweis meiner Reumut erstmal nen kräftigen Schluck aus der Pulle. Nach erfolgreicher Beschwichtigung und Beruhigung aller Beteiligten dürfen wir noch dem Ende des Konzerts beiwohnen, was sich bei genauerem Zuhören meiner Meinung nach als eher zweifelhaftes Vergnügen herausstellt. Die Zukunft des Rock’n’Roll muss wohl noch ein Weilchen warten, denke ich. Oder ohne mich auskommen.

Vor der Blockhütte von Obi namens „Rondell“ stehen plötzlich unerwartet viele Menschen. „Wollen die tatsächlich alle zu den Cowboy Junkies“, frage ich mich, „oder ist hier gleich der nächste Aufguss in der finnischen Sauna?“. Panikartig versuche ich durch den Hintereingang zu kommen. „Hilft es, wenn ich dir sage, dass ich für den Rolling Stone arbeite?“ „Das kann ja jeder behaupten“, antwortet der Türsteher mit höhnischem Grinsen. Mit der Visitenkarte eines Kollegen klappt es besser. Drinnen das passende Scheunenambiente für die Kanadier. Am Ostseestrand verzaubern Margo Timmins und die restlichen Cowboy Junkies. Am Ende spielen sie mit „Don’t Let It Bring You Down“ und „Powderfinger“ zwei unglaubliche Neil-Young-Coverversionen. Sie sei fünfzig Jahre alt, gesteht Margo Timmins in einer Pause, und streicht sich die Haare in den Nacken. Ein Traum von einer Frau, denke ich und schwebe bierselig hinaus in die frühen Morgenstunden. Der Frühvergreiste fängt den Wurm!

 

„Die schönsten Liebeslieder des Wochenendes“ – von Birgit Fuß
Weißenhäuser Strand, Zeltbühne, 12.11., 23.30 Uhr: Die schönsten Liebeslieder des Wochenendes kamen, in der fast mondlosen ersten Festival-Nacht, natürlich von Element Of Crime. Trompete und Geige, viel Poesie und ein bisschen Rockmusik, „Kaffee und Karin“, Klassiker („Weißes Papier“!) und Überraschendes wie das alte „Don’t You Smile“, als letzte Zugabe dann sogar noch „Über Nacht“: So gingen die 100 Minuten viel zu schnell vorbei. Passend zum maritimen Veranstaltungsort kramten die Elements auch „Vier Stunden vor Elbe 1“ raus. „Scheiß doch auf die Seemannsromantik/ Ein Tritt dem Trottel, der das erfunden hat/ Niemand ist gern allein mitten im Atlantik/ Diesmal, mein Herz, diesmal fährst du mit“, sang Sven Regener, wie immer wunderbar unterstützt von Jakob Ilja, Dave Young und Richard Pappik. Wer würde da nicht sofort einsteigen?

 

„Tina und ich – Begegnungen mit dem real existierenden Leser“ – von Arne Willander (Avatar)
Der Michl, ein manchmal nörglerischer Mann aus München, sagt immer, dass wir Redakteure jetzt mal den real existierenden Leser zu Gesicht bekommen. Auch am Freitagabend sagt das der Michl: Er steht an der „Rolling Stone“-Holzhütte, hält einen Bierbecher und ist in Spottlaune. Als er kürzlich schon einmal in solcher Stimmung war, kam ich erst am frühen Morgen nach Hause. Nun stehen wir also an der Holzhütte, und es gehen sehr viele real existierende Leser an uns vorbei. Der Wolfgang Höbel vom „Spiegel“. Der Olli von Oktober Promotion. Der Stephan von Check Your Head. Der Jörn Schlüter mit seiner Frau Kate.

Aber halt, Jörn schreibt ja für den „Rolling Stone“! Eben kniete er sich nieder, als Midlake mit zwei Querflöten ihre Waldgänger-Pastoralen aufführten. Jetzt gehen wir zum italienischen Restaurant, das irgendwie in den Boden eingelassen ist, als wäre es eine ausgegrabene Stätte der alten Römer. Auf der neuzeitlichen Karte stehen Schweinemedaillons in Champignonrahmsoße mit Nudeln, und da kommt der Volker und rät mir zum Beilagenwechsel: Er hatte schon gestern die Schweinemedaillons; zum Glück, so Volker, nahm er dazu aber Kroketten. Der Torsten tritt an unseren Tisch und führt mehrere Gespräche mit dem iPhone, bevor er sich wieder verabschiedet. Die Kellnerin ist das Gegenteil einer Italienerin, sie verkörpert vorbildlich jene stämmige Unbeugsamkeit, die man gemeinhin mit der schleswig-holsteinischen Landbevölkerung verbindet. Nun sagt mir die Grazie, dass sie keine Kroketten führen. Volker ist aber schon weg. Nehme ich also die Nudeln.

Schon wieder geht der real existierende Wolfgang Höbel vom „Spiegel“ vorbei. Will er zum Teenage Fanclub? Nach den Schweinerahmmedaillons mit Nudeln verabschiede ich mich von Jörn und seiner Frau Kate, sie wollen Giant Sand hören, gehen aber gleich wieder weg, weil Howe Gelb eine schlechte Ausstrahlung habe.

Am nächsten Morgen stehe ich vor dem Witthüs, es ist abgeschlossen, und dann kommt eine junge Frau, die eine Mütze trägt wie eine Polarforscherin oder Politesse: Es ist Tina Toledo, deren Beiträge ich aus dem Forum kenne. Eine real existierende Leserin also! Ich stelle mich vor. Und wie ist es so? Och, gut. Langsam füllt sich der Vorplatz, die Leser halten sich unter dem Dach in Deckung, jemand sucht den Hausmeister. Die Birgit signalisiert mir, dass ich Zahnpasta an der Lippe habe. Da triffst du Tina Toledo und hast weißen Barz im Gesicht! Dann erscheint der Wolfgang Doebeling, die Menge teilt sich, Applaus braust auf. Seine Mütze sieht aus wie die Mütze von Tina Toledo. Die beiden kennen sich auch bereits. Ob sie gemeinsam Mützen gekauft haben?

Bei dem anschließenden Workshop (ohne Work) setzt Tina uns mit unerbittlichen Fragen zu: Ballack? Fotostrecken? Sie klingt streng.

Nun habe ich aber Hunger, und ich sage in das Mikrofon, dass ich Tina zum Essen einladen wolle. Kurz danach ist der Workshop beendet. Der Wolfgang trägt nicht nur eine ähnliche Mütze, sondern will Tina auch zum Mittagessen einladen. Sie sind Vegetarier. In dem Lokal „Passat“ gibt es vor allem Schnitzel mit Soße in diversen Variationen und Kartoffeln in diversen Variationen, aber Tina nimmt einen Salat. Der Wolfgang auch. Der Torsten tritt an unseren Tisch und spricht in sein iPhone. Mein paniertes Schnitzel mit Jägersoße kommt. Tina und ich verabreden uns zum sogenannten Auflegen am Abend.

Ich lege aber gar nicht auf, habe gar keine Platten. Vom iPod ertönt Gisbert zu Knyphausen, „Seltsames Licht“. Tina kommt, diesmal ohne Mütze. Sie hatte gehofft, dass das Forumianertreffen vorverlegt worden sei. Ha! Der Wolfgang ist diesmal nicht dabei. Ich spendiere ein Bier. Sie fragt den Rainer, ob das eine Anmache sein soll. Ich glaube, der Rainer sagt: „Der ist immer so.“ Und nun lerne ich eine real existierende Leserin kennen! Wir sitzen auf gepolsterten Gutbürgerliches-Lokal-Stühlen, mitten im Raum. Nach einer Stunde kommt eine Freundin von Tina Toledo heran und sagt: „Tina, wir müssen bald gehen. Get Well Soon.“ Tina sagt: „Das ist Arne.“ Und die Freundin sagt: „Ich weiß ja nicht, unter welchem Namen du sie kennst.“ Na, Tina Toledo. Heißt sie denn nicht so?

Da wird mir bewusst, dass man niemanden so ganz kennen kann.

 

„Apartment Stories“ – von Daniel Koch
Weißenhäuser Strand, Apartment Block C, 13.11., 12:30 Uhr. Tom Hanks bringt mich runter. Nicht vom Kokain, das mir schon immer egal war. Nicht vom Redaktions-WG-Pils, das noch immer meinen Kater füttert. Und zum Glück nicht vom guten Kaffee, der mich morgens in der großen Passage endlich aus dem Schlaf kickte und mich halbwegs fit für den frühmorgendlichen „Redaktionsworkshop“ machte. Ich schau Tom Hanks in die dullen Augen, lausche seinen schnarchnasigen Sätze zum Thema „Da Vinci Code“, frage mich kurz, was für Tabletten er nimmt, dass er selbst neben Audrey Tautou diese somnambule Ruhe bewahren kann und merke, wie ich endlich selbst die Ruhe finde, mal mein Hirn zu sortieren. Festivals sind ja immer Reizüberflutung, beim Weekender – über den ich teilweise dachte, ich hätte ihn selbst gebucht (National, Element Of Crime, Teenage Fanclub, Tindersticks, Gaslight Anthem… hat da einer in meine Plattensammlung gelinst?) – ist das noch ein bisschen schlimmer. Da freut man sich, dass man auch mal für eine halbe Stunde faul auf dem Sofa sitzen, das „Belegte Brötchen 2,50 Euro“ vom „Edeka Jens“ verspeisen und dabei Tom Hanks via ZDF via Kleinbildfernseher ins Zimmer lassen kann. Also: sortieren. Die Momente noch mal Revue passieren lassen, bei denen man stocksteiflelektrisiert vor der Bühne steht. The National wieder! Wie unprofessionell ist das eigentlich? Immer auf dieselbe Band reinzufallen? Immer (spätestens) beim selben Lied? Egal. Bei „Apartment Stories“ vergesse ich alles, stehe in diesem großen Achtmaster-Zelt, tippe mit dem Fuß, wie ich es aus dem wunderbaren Video zum Song kenne, schaue versonnen auf die Bühne, lehne mich in den toll abgemischten Sound, bei dem selbst die Snare von Drummer Bryan Devendorf in hellstem Klang erstrahlt und singe die Zeilen, die mir selbst nach hundertfachem Hören und einmaligem Ins-Weekender-Programmheft-Schreiben nicht zum Halse raushängen: „Hold ourselves together with our arms around the stereos for ours.“ Ähnlich hat mich nur der inzwischen optisch ein wenig betagte Teenage Fanclub getroffen, als sie meinen Favoriten „I Don’t Want Control Of You“ spielten. Selbst wenn ich mir schon vorher gedacht habe, dass „Songs From Northern Britain“ auch unter dem grauen Himmel Nordeutschlands funktionieren werden, nimmt es mich doch erneut mit, wie himmelhochjauchzend diese so simple Gitarrrenmelodie ist, die diesem Song zugrunde liegt. Und wo man gerade bei Herbst und Sturm und grauen Wolken ist: Gibt es etwas Passenderes als (endlich mal wieder) „Über Nacht“ von Element Of Crime unter strahlend grauem Himmel an der windgepeitschten Ostseeküste zu hören? Nö. Und genau diese musste am späteren Abend dann auch noch besucht werden. Nach dem Ärger, Giant Sand und Tampe Impala verpasst zu haben, nach all den geselligen Getränken, nach der Runde mit alten Freunden, die einem in ihrem Apartment mallorcinischen Schnapps kredenzten, nach dem nächtlichen Irren durch giftgrüne Hotelkorridore, die wirkten als wären sie einer Wenzel Storch-Adaption von „Inception“ entsprungen – nach all dem gab es nur einen Ort, um den Tag ausklingen zu lassen: den Strand. Wie man dann später, mit Sand in den Schuhen bei sportlichen acht Grad und schwungvollen Windböen so auf dem Steg stand, dachte man zwar noch, das könne nicht sooo gesund sein, aber immerhin trieb es einem den Schnapps schon vor dem Schlafengehen wieder aus. Und die Erkältung kommt dann pünktlich zum Tatort.

Weißenhäuser Strand, Apartment Block G, 12.11., 20.50 Uhr: Darf man das Wort „kafkaesk“ benutzen, um die Suche nach einem Hotel-Apartment zu bezeichnen? Ist am Ende gar die Architektur und Gebäudebeschriftung der Anlage am Weißenhäuser Strand direkt von Kafka inspiriert? Kommt gleich ein Security-Angestellter und sagt mir, ich könne nur in dieses Gebäude, wenn ich den Passierschein A 39 vorweise? Fragen, die mich zwangsläufig beschäftigen, während ich mit tropfendem Sakko durch den Regen stapfe, und das Zimmer meiner Freunde suchen, die mich mit selbstgemixten Rumcocktails in ihren Block gelockt haben. Und leider schon vorgegangen sind. So eine Einladung kann man kurz vor einem National-Konzert ja schwer ausschlagen, das hätte auch ein Matt Berninger unterschrieben. Nach zwanzig Minuten herumirren, auf einer Strecke, die man sonst in fünf schafft, klopfe ich endlich an die richtige Tür und lasse mich erschöpft in einen eisgekühlten Cocktail fallen. „Put a little somethin in our lemonade…“

Weißenhäuser Strand, Apartments „Am Strand“, Artist Bereich, 13.11., ca. 19:30 Uhr: Wer hemdsärmelig sagt, der meint oft die Musik von Gaslight Anthem. Und tatsächlich haben sie gerade etwas von müden Bauarbeitern, wie sie in den Sofas ihrer Zimmer hängen und noch die letzten Presseverpflichtungen des Tages abreißen. Es ist das gelebte Klischee der vom Touren gezeichneten Rockband, aber wenn man Brian Fallon in die müden Augen schaut, wenn man sieht wie Alex Levine mit dem Schlaf ringt und dabei gelegentlich wie ein Wackeldackel anmutet, wenn man mal genauer nachfragt, wie denn das Leben in den vergangenen sechs Monaten so aussah, dann kann ich mir wieder nicht verkneifen, was ich Musikern, die noch nicht in der Luxusklasse touren, schon oft bei Presseterminen gesagt habe: „Euren Job möchte ich nicht haben.“ Aber Fallon würde nie einfallen, darüber zu klagen. Lieber grinst er und sagt: „No, I love it. The part on stage actually.“ Dennoch weiß er das große Medieninteresse ebenso zu schätzen und macht einen vorzüglichen Job. Für eine kleine Live-Session, die ich für unsere Website filme, ziehen wir uns mit Fotograf Erik in ein Zimmer zurück, wo er zwischen Gitarren- und Rollkoffern auf einem schrecklichfarbenen Hotelstuhl sitzt, und völlig versonnen und verloren seinen Song sitzt. Wer diese Seite sieht, die auch in ihren älteren Songs „Blue Jeans And White T-Shirts“ oder „Here’s Looking At You, Kid“ durchscheint, der verkneift sich vielleicht das nächste mal das Wort „hemdsärmelig“. Wenige Minuten später ist Fallon wieder putzmunter, als ich ihn frage, ob er schon die Songs der neuen Social Distortion-Platte gehört hätte. Fallon, der mit Mike Ness befreundet ist, kennt nur ein paar, vier um genau zu sein, von der er nur einen für „crap“ hält – leider die Single. Aber der Rest sei sehr überzeugend. Bei der Bandfotosession, für die Fotograf Erik und Kollege Torsten sogar ihre Gürtel ließen (um die Lampe über dem Billard-Tisch zu befestigen), regiert dann allerdings wieder die Müdigkeit und man spürt, wie sehr einem ein Tagesablauf aus Kurzinterviews, www.rollingstone-Session, Rockpalast-Aufzeichnungen und eben Fotosessions aufs Lächeln schlagen kann. Nach zwanzig Minuten sind sie dann endlich erlöst und Brian Fallon verabschiedet sich mit der ihm eigenen Herzlichkeit. „I hate this part“, sagt er noch und grinst. „That bad?“, frage ich. „No“, sagt er: „It could have been worse. Nobody asked me about Bruce.“ Spricht es, rückt den Hut zurecht und lacht laut auf.

Alle Infos zum Festival finden sich auf der Festivalwebsite.

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