ROLLING STONE wird 20. Unsere Helden, Teil 8: Jeff Tweedy

Wir werden 20! Und starten mit einer Serie ins Jubiläumsjahr – über 20 Helden, die uns in den vergangenen 20 Jahren wichtig waren. Teil acht: Jeff Tweedy. Ein Porträt von Maik Brüggemeyer

An einem klirrend kalten Abend im Februar 2002 gab Jeff Tweedy ein Konzert in der kleinen Tanzhalle auf St. Pauli. Nur mit Gitarre und Mundharmonika stand er da und spielte Lieder von einem Album, das noch nicht erschienen war und beinahe auch nie erschienen wäre, weil die Plattenfirma, die es bezahlt hatte, es nicht haben wollte. Sie hatten Tweedys Band Wilco aufgrund fehlenden kommerziellen Potenzials rausgeworfen, und die waren durch die Hintertür wieder rein und hatten ihr Album einer Unterabteilung derselben Firma noch mal verkauft. Wilco hatten das System überlistet, und Jeff Tweedy war der ultimative Outlaw. Auf seiner Gitarre stand zwar nicht „This guitar kills capitalists“, aber man dachte das mit an diesem Abend. „Wie direkt aus dem Dust Bowl“ habe er ausgesehen, schrieb ich damals in meiner Besprechung, er sei „der legitime Nachfolger von Woody Guthrie“. Und tatsächlich standen die Lieder des schließlich im April 2002 erschienenen „Yankee Hotel Foxtrot“ in dieser Tradition, denn über Amerika zu singen war nach 9/11 wieder mehr als eine schicke Retrogeste in Gedenken an Gram Parsons und The Band, es ging um die gewaltlose Verteidigung eines Traums und einer Utopie, die nichts gemein hatte mit George W. Bushs „war on terror“.

Tweedy sang „Ashes Of American Flags“, den Song, der klang, als hätte er ihn erst nach dem amerikanischen Schicksalstag geschrieben, und doch lange vorher entstanden war. Die großen prophetischen Lieder fand man also nicht nur auf alten Platten und in den Büchern von Greil Marcus,  sie wurden immer noch geschrieben und gesungen.

„Yankee Hotel Foxtrot“ war wenig später eine Offenbarung. Tweedys Folksongs über die nächtliche Aura der Metropolen, erzitternde Wolkenkratzer, Entfremdung, Einsamkeit und Gewalt, Geldautomaten, kalorienfreie Softdrinks und eine Heavy-Metal-Jugend klangen durch Jim O’Rourkes Inszenierung plötzlich urban, verbanden Tradition und Gegenwart. In der Redaktion war das damals nicht unumstritten, man hing an der süffigen Wilco-Americana von „Being There“ und dem opulenten Pop von „Summerteeth“. Für mich wurden Wilco erst mit „Yankee Hotel Foxtrot“ zu einer Lieblingsband.

Treffen wollte ich Tweedy allerdings nicht unbedingt. Er sei ein schwieriger Typ, erzählte man sich damals, im Gespräch eher wortkarg und stieselig, deshalb überließ ich die Interviews gerne den Kollegen und hielt mich an die alles sagenden Platten. Das dunkle, zerrissene „A Ghost Is Born“ ließ erahnen, dass sein Schöpfer nicht unbedingt ein sprudelnder Quell der Lebensfreude war. Ein Jahr später lief Tweedy mir bei einem Konzert in München über den Weg, er schien ein bisschen fahrig, wir sprachen über früher und über mein Buffalo-Springfield-T-Shirt, aber viel hatten wir uns nicht zu sagen. Das nächste Interview – zu „Sky Blue Sky“, einem transzendenten Traueralbum – durfte dann gern Birgit führen, die in ihrem eindrücklichen Bericht von Tweedys „wenig eloquenter, eher schroffer Art zu sprechen“ berichtete.

Als Arne jedoch zwei Jahre später anlässlich der filigranen Leistungsschau  „Wilco (The Album)“  fragte, ob jemand nach Chicago reisen wolle, um die Band im Studio zu besuchen, musste ich dann aber doch ins Flugzeug steigen, denn den Ort, an dem diese magischen Lieder entstanden, wollte ich sehen. Mit „In The Heart Of The Heart Of The Country“ von William H. Gass und einem Zettel mit 50 Fragen im Rucksack machte ich mich auf den Weg. Am Klingelschild eines unauffälligen Warenlagers im Norden Chicagos fand ich schließlich die Aufschrift „Foxtrot“. Dahinter verbarg sich „The Loft“, Wilcos Proberaum und Studio. „Eine Art studentisches Wohnzimmer“, schrieb ich damals, mit Postern an den Wänden, Regalen voller Platten, Bücher und DVDs, einer PlayStation und einer weiten Gitarrenlandschaft. Tweedy, „Jeansjacke, T-Shirt, Baseballkappe, Dreitagebart­inseln im Gesicht“, öffnete einen riesigen Kühlschrank, der von oben bis unten mit Cola-light-Flaschen gefüllt war, und bot mir eine an. Er schien freundlich gelöst, und die Erwähnung meiner Flugzeuglektüre brachte den sonst so muffeligen Mann gar zum Lachen: Ich hatte gelesen, dass die Zeitschrift ‚GQ‘ ihn zum „perfect modern rock star“ erklärt hatte. „,Wir sind sehr sehr stylish, weltmännisch und sophisticated“, sagte er grinsend und drehte sich wie eine „GNTM“-Kandidatin.

Tweedy erzählte mir äußerst offen von seiner überwundenen Schmerz-mittel­sucht und von seiner Angst, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Doch es gehe ihm mittlerweile besser, sagte er. „Die Leute machen immer noch eine große Sache daraus, dass Songwriter innere Kämpfe durchstehen und immer leiden müssen, um große Dinge zu schaffen. Ich glaube, das ist ein ziemlich schäbiger Mythos. Jetzt, wo es mir besser geht, leide ich zugleich viel intensiver als früher, weil ich jetzt nämlich auch schlimme Dinge an mich heranlassen kann. Wenn man Frieden geschlossen hat mit dem Leiden und sich erlaubt zu leiden, statt zu irgendwelchen Hilfsmitteln zu greifen, wird auch die Kunst besser.“

Zwei Jahre später stand anlässlich von „The Whole Love“ die nächste Reise nach Chicago an. Ich checkte downtown im Hard Rock Hotel ein und bekam das Eurythmics-Zimmer. Dann machte ich mich auf den Weg zum Loft. Es war wie Nach-Hause-Kommen.

Cover 1

Rezensionen 19

Sterne 84,5

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