Steely Dan: „Gaucho“ – wenn Los Angeles sich auflöst

Kürzlich hat jemand vorgerechnet, dass "Gaucho" etwa tausend Aufnahmestunden verbrauchte und Walter Becker und Donald Fagen das Geld ausging, obwohl sie von "Aja" drei Jahre zuvor etwa drei Millionen Exemplare abgesetzt hatten. Das passt zu dem auf die Spitze getriebenen Perfektionismus und Größenwahn der beiden, die sich nun keinem Diktat des Studios oder des Mammons mehr beugen mussten. Arne Willander hörte sich das Album nochmal an.

ROLLING STONE berichtete 2011:

Fagen ließ eine einzige synthetische Schlagzeugsequenz 122-mal wiederholen, ehe er den Versuch für gescheitert erklärte und abreiste. Drei Jahre nach „Aja“ erschien „Gaucho“ schließlich doch – konsequenterweise war es die letzte Steely Dan-LP für 20 Jahre.

Becker und Fagen hatten zusätzlich zu den üblichen New Yorker Studios zwei Stätten in Los Angles gebucht: das „Village Recorder“ und den „Producers Workshop“ in Hollywood. Früher wäre es vollkommen absurd erschienen, die hartgesottenen Zyniker von der Ostküste ausgerechnet nach LA zu verpflanzen. Doch das Duo hatte in Hollywood einiges zu tun: Der Konsum von Kokain vernichtete ihr Geld, steigerte ihre Hybris und trieb die Produktion zu immer neuen Exzessen an Politur und Reduktion. Der Verbrauch an Musikern (allein die Schlagzeuger!) war auch vorher legendär, doch „Gaucho“ erledigte auch Jeff Porcaro und Steve Gadd.

1978: Walter Becker und Donald Fagen

„Gaucho“ wurde Beckers und Fagens kalifornisches Album, vor allem aber ihr Tribut an Rauschgifte aller Art. Nach konservativen Schätzungen handeln drei Songs von Drogen und Dealern, zwei weitere von Zuhältern oder Prostituierten, wobei die Grenzen fließend sind. Und das Album umfasst nur sieben Stücke! Nicht schlecht für eine Platte, die von MCA 1981 als Mainstream-Produkt neben Toto und REO Speedwagon verkauft wurde.

Als „clean“ und „kalt“ gilt die Platte heute bei vielen Kritikern, andere verehren sie trotzig als den Gipfel von Beckers und Fagens Schaffen: Die metronomartige Präzision, die skelettierten Songs verrieten raffinierte Jazz-Ästhetik, das Herz sei in den Texten zu suchen. Dort war es immer – allerdings klangen „Pretzel Logic“ und „The Royal Scum“ auch erheblich freundlicher, süffiger und, tja, menschlicher.

Rikki, der Dealer

Nun ist viel von dem Gerede über „Gaucho“ natürlich Mystifikation. Becker und Fagen galten nicht erst seit ihrem drogeninduzierten Wirken in Los Angeles als die coolsten Hipster der Popmusik, weil man Steely Dan hören und trotzdem ein lässiger Klugscheißer sein konnte. Obwohl jeder Depp „Rikki Don’t Lose That Number“ liebt, macht es sich gut, über die Identität von Rikki zu streiten (auch er, was sonst, ein Dealer). Funktioniert auch heute noch: Erwähnen Sie mal in einer Kaschemme, in der so genannte Musikjournalisten, Werber oder Plattenfirmenleute herumstehen, Dr. Warren Kruger aus dem Song „West Of Hollywood“. Wer ist er? Da will jeder Bescheid wissen. Vergessen Sie Pynchon! Wer es bis zum richtigen Jazz oder bis zur richtigen Literatur nicht schafft, der bringt es vielleicht noch bis zu Steely Dan.

Oder zu der Behauptung, diese Musik sei „Easy Listening“, wahlweise bloß virtuos. Gilt auch für Fagens „The Nightfly“ und „Kamakiriad“. Aber dann hören Sie „On The Dunes“ mal, wenn Sie sehr schnell Auto fahren. Oder „Gaucho“ bei Nacht. Und verdammt laut. Das Tolle ist, dass die scheinbar langweiligen Stücke wie „My Rival“ immer größer werden, je verzweifelter man an der Geschichte knackt. Und die offenkundig olympischen Songs wie „Babylon Sisters“ und „Hey Nineteen“ werden immer mysteriöser, je fröhlicher man sie mitsingt.

Junge Weiber, männliche Impotenz

Ein Mädchen, das ich kenne, findet „Hey Nineteen“ eklig: „Now we can’t dance together/ Now we can’t talk at all/ Please take me along/ When you slide on down“, spricht da der nicht mehr so junge Mann zu der sehr jungen Frau. „She thinks I’m crazy/ But I’m just growing old.“ Fagen ist regelrecht besessen von dieser Vorstellung – schon auf „Aja“ und dann ganz und gar auf „Two Against Nature“ kreisen seine Texte um junge Weiber und männliche Impotenz. Aber dann der Chorus: „The Cuervo Gold/ The fine Colombian/ Make tonight a wonderful thing.“

https://www.youtube.com/watch?v=qax9l15ewoA

In dem besten Lied über Los Angeles und einem seiner schönsten Stücke, „Babylon Sisters“, ist Fagen der letzte Tycoon von Fitzgerald: „Drive west sunset to the sea/ Turn that jungle music down/ Just until we’re out of town/ This is no one-night stand/ It’s a real occasion/ Close your eyes and you¹ll be there/ It’s everything they say/ The end of a perfect day.“ Wer möchte nicht mitfahren? „Here come those Santa Ana winds again“, säuselt der Damenchor.

Und wenn die Platte weiterläuft zu „Glamour Profession“, zu „Illegal fun under the sun“ und dem wiederholten Trompetenmotiv am Ende, zum spanisch-aztekischen „Gaucho“, zum metaphorischen „Time Out Of Mind“ und zum enigmatischen „Third World Man“, wird die Platte stets unheimlicher und verrätselter, die Gitarrensoli werden länger, alles zerfließt im Surrealen. Los Angeles löst sich vor unseren Ohren auf. Wie wunderbar.

Da hilt nur noch Dr. Warren Kruger.

(MCA, 1980)

Michael Ochs Archives
Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates