The Who by Numbers

Ihr Geburtsort war das swingende London das Geburtsjahr Beat-dominiert, die Geburtshelfer Mod-motiviert. Ihren Zenit als sensationelle Live-Band erreichten The Who indes erst fünf Jahre später

Art School. Eine britische Institution. Keine Hochschule, kein akademischer Bluff. Eher ein Auffangbecken für die musisch Begabten, die kreativen Köpfe, die Nestflüchtlinge und Tunichtgute. Eine Brutstätte für Bohemiens und spätere Popstars. Hier gab es Freiräume, die den Griff zur Gitarre begünstigten. John Lennon, Keith Richards, Eric Clapton, David Bowie. Ganze Seiten ließen sich füllen mit der Aufzählung namhafter Musiker, die ihr Talent am Instrument in der Art School erprobten und auslebten. So auch Pete Townshend, der sich 1961 in der Ealing School Of Art einschrieb. „Es war die wichtigste Zeit in meinem Leben“, erinnerte er sich später, „weil sie mich verwandelte, meine Sinne schärfte, mein Hirn in Gang setzte und mir Musik als Feld für schöpferische Arbeit nahelegte“. Durchaus persönlichkeitsverändernd. „I decided I was going to get nowhere as an introvert, so I became an extrovert.“

Für den jungen, musikvernarrten, extrovertierten Pete standen alle Türen offen, London lernte gerade das Swingen, hunderte hoffnungsvoller Bands bespielten nächtlich Clubs und Pubs. „Es lag Aufbruch in der Luft“, charakterisierte Pete fast 40 Jahre danach diese Atmosphäre. Er schloss sich den Detours an, die ein paar Skiffle-Nummern draufhatten, Cliff Richard & The Shadows coverten und in Trad-Jazz dilettierten. Roger Daltreys Band. Roger rackerte als Metallarbeiter, war ein Raufbold. Diskussionen im Übungsraum verliefen nicht immer gewaltfrei. Wenn Pete mit Roger aneinandergeriet, „gab’s nicht selten was auf die Fresse“, so Daltrey schuldbewußt. Während der tagsüber malochte, hing Pete vor dem Plattenspieler und studierte den Blues, hörte Howlin‘ Wolf und Lightnin‘ Hopkins. Dann ging alles sehr schnell. Dieses neue Ding namens Beat schwappte, aus Liverpool kommend, übers Land, erfasste zuerst die Jugend, dann die Charts und Medien. The Beatles! Und in ihrem Schlepptau zahllose Beatgruppen. Adrett meist, die kurzen Haare forsch nach vorne gekämmt, die Musik frisch, fröhlich, fab. Londons Reaktion hieß Rhythm & Blues. The Rolling Stones! Und Konsorten. Vornehmlich wüst, die Mähnen zottelig, die Musik fordernd, fiebrig, frei. In diesem Spannungsfeld bewegten sich die Detours. Townshend liebte beide, die Beatles und die Stones, schaute auf zu ihnen, kopierte sie. Und suchte doch einen dritten Weg, eine eigene Identität. Er fand sie in der 1963 noch embryonalen, 1964 schon pubertierenden Mod-Szene. Mods waren smart, hatten Stil, hörten R&B. Aus den Detours wurden die High Numbers, deren formidable Single flopte, dann The Who. Inzwischen war auch John Entwistle an Bord, Keith Moon folgte. „Maximum R&B“ versprachen ihre Poster, die Auftritte der Band schlugen hohe Wellen. Brunswick biss an, im Februar 1965 erschien „I Can’t Explain“, Kinks-inspiriert, von Radio Caroline in die Charts gehievt. Position acht, der Anfang war gemacht.

Fast forward, zum Ende der Dekade. Vier Jahre lang hatten The Who aus der zweiten Reihe gewirkt, Hit-Singles am laufenden Band produziert (ohne indes jemals den Spitzenplatz zu erobern), exzellente LPs auch (wiewohl erratische), sie waren Stil-Ikonen (Pop-Art!), explosive Performer (Zerstörungs-Rituale!) und erfolgsverwöhnt. Nur der große Durchbruch in Amerika wollte nicht so recht gelingen. Das sollte sich nun ändern. Beat war längst out, Psychedelia die Mode von gestern, der dreiminütige Popsong ältlich. Die Rock-Ära brach an, die Musik wurde brachialer, komplexer, ernster. Was dem alten Grübler und Zweifler Pete Townshend sehr entgegenkam. „Ich liebe Musik, die aus dem Bauch kommt“, gestand er seinerzeit, „doch meine entsteht immer im Kopf.“ Während sich also eine ganze Generation von Sixties-Bands mühte, nicht allzu hart aufzuschlagen bei ihrem Weg nach unten, kletterten The Who noch einige Sprossen die Erfolgsleiter hinauf. Singles waren plötzlich sekundär, die LP wurde zum favorisierten Tonträger. Länge der Tracks und Ferne vom Pop waren Qualitätsmerkmale, Led Zeppelin waren stolz darauf, keine Singles herauszubringen. Es war eine Epoche der Prätention, das Wörtchen „progressiv“ war positiv besetzt und Townshend wußte das zu nutzen. Für die Umsetzung konzeptioneller Ideen, nicht mehr konzise wie noch auf „A Quick One“. Je pompöser und prophetischer, desto beachtenswerter. Willkommen, „Tommy“: eine „Allegorie auf das Nachkriegs-Britannien“, so Townshend, „mit spirituellem Hintergrund“. Eine Rock-Oper!

Paradox: Auch wenn das Intro von „Substitute“ unendlich wertvoller ist als der ganze ausufernde „See Me, Feel Me“-Schwurbel um den taubstummblinden Mini-Messias, dürfen die Jahre ’68 bis ’71 mit Fug und Recht als die besten der Live-Band The Who gelten. Eine Naturgewalt, nicht weniger. Mitschnitte von „Woodstock“ oder vom Isle-Of-Wight-Festival vermitteln davon nur eine blasse Vorstellung. Man muss dabei gewesen sein, diese eruptive, perfekt getimte Show erlebt haben, um zu verstehen, welche Begeisterung das Quartett auslöste. Dabei waren die Ingredienzien nicht besonders aufregend. Pete ließ die Arme rotieren und sprang an strategischen Stellen in die Luft oder vom Verstärker herunter, Roger ließ in seiner braunen Wildlederjacke das Mikro wie ein Lasso kreisen und fing es dann immer gerade rechtzeitig wieder auf, Keith bearbeitete sein Schlagzeug wie ein Derwisch, John stand da wie angewurzelt. Im wesentlichen immer dasselbe Set, dieselbe Dramaturgie, dieselben Posen. Und doch jedesmal elektrisierend. Unerklärlich. Fand auch Townshend, der die folgenden Jahre damit verbrachte, sich in Selbstzweifeln zu ergehen und seine Band durch reines Nachdenken irgendwann obsolet zu machen. „Pete’s a great guy“, sagte Keith Richards damals, „but he thinks too much“. Townshends Replik: „As if I didn’t know“.

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