Kommentar

Till-Lindemann-Debatte: Wenn das Spiel kein Spaß mehr ist

Rammstein, die Groupies und die Rockmusik: Wo sind die Grenzen, wie machen wir jetzt weiter? Ein Versuch, das alles mal in Ruhe einzuordnen

Kolleginnen auf dem Flur, Freunde beim Abendessen, Musiker:innen sowieso: Niemand redet gerade nicht über Rammstein und Groupies und was in der Rockmusik eigentlich so los ist. Was bei aller berechtigen Empörung manchmal verloren geht, ist eine Differenzierung: Was genau ist passiert, wo fängt das Justiziable an, wo hört der Spaß auf? Ein paar allgemeine, persönliche Gedanken zur Lage – von einer Frau, die seit 35 Jahren zu Rockkonzerten geht und viel Verständnis hat für junge Frauen, die Rockstars anhimmeln und sich auch fürs Backstage interessieren. Bisher schien das ein eher harmloses Vergnügen zu sein.

Welche Grenzen meinen wir überhaupt? Rechtliche, moralische, persönliche?

Ist es größtenteils immer noch, zum Glück: Es gibt sehr viele Rockbands, die einfach normale Aftershowparties feiern, bei denen vielleicht mal (zu) viel getrunken wird, aber sonst wenig Wildes passiert. Und grundsätzlich finde ich, alle können so viel und so krassen Sex haben, wie sie wollen, solange es von allen Seiten freiwillig passiert. Wenn Gewalt oder auch „nur“ Druck ins Spiel kommen, ist es eben genau das nicht mehr: ein Spiel, auf das alle Beteiligten Lust haben. Da sind für mich die Grenzen eindeutig überschritten.

Und hier ist schon das nächste Problem: Welche Grenzen meinen wir überhaupt? Rechtliche, moralische, persönliche? Das sind ja sehr unterschiedliche Kategorien, von denen die rechtliche noch die unkomplizierteste ist. In dem Bereich vertraue ich jetzt ausnahmsweise einfach mal der deutschen Justiz (und all den investigativen Journalist:innen), dass sie rausfinden, welche Vorwürfe bewiesen und verfolgt werden können. Bei der moralischen Einschätzung wird es schon schwieriger. Muss man wegen dieser widerlichen „Row Zero“-Politik (um nur das zu nennen, was bisher eindeutig ist) Rammstein nun ablehnen und ihre Musik und Konzerte boykottieren? Das kann nur jede:r für sich entscheiden. Für mich ist das leicht. Ich sah Rammstein das erste und letzte Mal in Roskilde 1998. Mir waren Texte und Auftreten sehr unangenehm. Ich glaube, es liegt daran, dass ich Provokation zwar im Allgemeinen mag, aber eine Provokation, die nur das überspitzt und ja irgendwie doch feiert, wovon es in der Gesellschaft sowieso bereits viel zu viel gibt – Sexismus und Gewalt –, brauche ich nicht. Die niedrigsten Instinkte, die alle Menschen kennen, müssen nicht noch extra rausgelockt werden. Zudem war schon damals sofort klar, dass vielen Zuschauern die Unterscheidung zwischen Lyrischem Ich und der Wirklichkeit gar nicht gelingt – anders als etwa beim eindeutigen Theater von Alice Cooper. Nicht die Schuld der Band? Mag sein. Trotzdem scheußlich.

Till Lindemann und seine Penis-Kanone

Was die Beschaffung von sexwilligen Fans angeht: Grundsätzlich finde ich, dass jeder sich die Menschen, mit denen er schlafen will, doch wenigstens selbst aussuchen kann. Das ist nicht zu viel verlangt. Dass auch das anscheinend bei manchen Bands noch outgesourct wird: armselig. Klar, gab’s schon immer, dass zum Beispiel Security-Leute Frauen ins Backstage einluden, aber dass es auf eine so schäbige Weise professionalisiert wird, ist doch noch mal eine neue Dimension.

Egal wie naiv manche der jungen Frauen vielleicht waren oder sind – niemals, ganz einfach NIEMALS sind sie an Handlungen schuld, die gegen ihren Willen geschehen

Natürlich kann man zudem generell über den Machtmissbrauch zwischen Rockstar und Fan nachdenken, aber wer jemals Pamela Des Barres‘ Autobiografie „I’m With The Band“ gelesen hat, weiß, dass viele Groupies sich überhaupt nicht als Freiwild sehen, sondern eher als Jägerinnen. Nun sind die 60er-Jahre lange her, auch wenn sich in Sachen Feminismus und Gleichberechtigung seitdem leider viel weniger getan hat als erhofft. Trotzdem scheint mir dieses Machtgefälle im Musikgeschäft – anders als etwa im Arbeitsumfeld – weniger dramatisch zu sein: An einem „Nein“ hängt hier zumindest kein Job, kein Lebensunterhalt. Und gleichzeitig ist es natürlich schwer, ein Idol wegzustoßen, wenn es einem zu nahe kommt. Deshalb sollte für alle Rockstars gelten, was auch für jeden anderen Menschen gilt: niemals aufdrängen, niemals bedrängen!

Was dabei besonders wichtig ist: Egal wie naiv manche der jungen Frauen vielleicht waren oder sind – niemals, ganz einfach NIEMALS sind sie an Handlungen schuld, die gegen ihren Willen geschehen. Nicht die unerfahrenen, vertrauensseligen Menschen (die sich möglicherweise gar nicht als „Opfer“ sehen möchten, deshalb nenne ich sie nicht so) sind die Täter, die Täter sind die Täter. Immer.

Wenn diese ganze Angelegenheit für irgendwas gut sein soll, dann hoffentlich dafür, dass jetzt ein größeres Bewusstsein für die Gefahren entsteht, von denen die meisten gar nicht wussten, dass es sie gibt. Zum Beispiel: Falls dich jemand bitten sollte, dein Handy abzugeben, bevor du irgendwo mitfeiern darfst, dann nimm dein Handy und geh sofort nach Hause! Natürlich schade, dass solche Warnungen überhaupt nötig sind. Aber eben Realität.

Venla Shalin Redferns
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