U2 Richtung Zoo: So entstand „Achtung Baby“

"Achtung Baby" war ein Meilenstein der Musikgeschichte und ein Wendepunkt in der Karriere von U2. Zur Veröffentlichung der Jubiläumsbox des Albums befasste sich Stephen Dalton für uns mit der Entstehungsgeschichte.

Tokio, Ende 1993, Mitten im Nebel des auslaufenden 20. Jahrhunderts. Die größte, teuerste und technologisch ambitionierteste Rock-Tournee der Geschichte neigt sich gerade ihrem Ende zu, als es Bono ausnahmsweise gelingt, dem engmaschigen Netz von Managern und Betreuern zu entkommen. Zusammen mit „Fighting“ Fintan Fitzgerald, dem langjährigen U2-Stylisten, stürzt er sich in das Nachtleben einer Stadt, die er „the world capital of Zoo TV“ nennt. Zugeknallt bis über beide Ohren, bar jeder Orientierung in einer fremden Kultur, erfahren sie hautnah, was es bedeutet, „lost in translation“ zu sein.

Nach einer durchzechten Nacht in unterirdischen Techno-Clubs finden sich Bono und Fitzgerald im Morgengrauen in einem Apartment wieder, das von halbnackten japanischen Mädchen bevölkert wird. Eines bietet ihm Heroin und Sex an, doch Bono lehnt dankend ab und verkriecht sich in eine Ecke, um seinen Rausch auszuschlafen. Er wird wieder geweckt, als plötzlich eine Python über seine Beine kriecht. Er schießt erschrocken hoch, schüttelt fassungslos den Kopf und rennt auf die Straße, um ein Taxi zu finden. „Das war’s“, stöhnt er, zurück im Hotel. „Ich habe den Bogen überspannt. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Polizei hätte mich in einer Crack-Höhle der japanischen Mafia verhaftet, umgeben von Prostituierten und Heroinsüchtigen.“ Er geht schlafen, doch die Bilder in seinem Kopf laufen weiter, albtraumartige Sequenzen auf mehreren Kanälen, bevölkert von Nazis und Teufeln, Bill Clinton und Elvis, Frank Sinatra, Naomi Campbell und brennenden Hakenkreuzen.

Seit drei Jahren nun sind U2 schon auf diesem seltsamen Trip. Waren sie in ihrem früheren Leben noch aufrechte christliche Rocker, die die Menschheit aus dem Sündenpfuhl zu reißen suchten, sind sie inzwischen – gekleidet in schwarzem Leder und umgeben von Super-Models – zu abgehobenen Selbstdarstellern mutiert, die sich an ihrem eigenen Narzissmus, ihrer eigenen Scheinwelt berauschen. Wie konnte es so weit kommen?

Die Gegend rund um die Hansa Tonstudios hat heute keine Ähnlichkeit mehr mit dem Niemandsland, das man noch Mitte der 90er-Jahre dort vorfand. Der frühere Tanzpalast der Nazis, später Geburtsort von Bowies legendärem Album „Heroes“, liegt heute vis-a-vis der neuen Metropolis, die sich Potsdamer Platz nennt – ein überdimensionales „Fuck off“, das der kapitalistische Westen gen Osten schickt: Wir haben gewonnen, ihr habt verloren. Als U2 im November 1990 hier aufkreuzten, lagen die Hansa-Studios noch am Rande des Todesstreifens, der einst Ost und West trennte. Auf den Straßen parkten noch immer die Trabis, die U2 zu ihren zeitweiligen Maskottchen machen sollten; wo zwölf Monate zuvor noch die Mauer stand, befand sich nun ein „Mad Max“-ähnliches Panorama aus Geröll und Alt-Metall, ein „surrealistischer Schrottplatz“, wie Bono es formulierte.

Auch im übertragenen Sinne war es ein Niemandsland, das die vier betraten. Wie immer wollten sie mit einem neuen Album den Zeitgeist einfangen, wussten aber nicht so recht, wo und wie sie es anstellen sollten. Nur so viel war klar: Der Kalte Krieg lag in den letzten Zügen, Deutschland feierte die Wiedervereinigung – folglich schien Berlin der geeignete Austragungsort zu sein.

Kaum in Berlin gelandet, gerieten sie auf der Straße schon in eine Demo. Seltsamerweise, so stellten sie zu ihrer Überraschung fest, schienen die Demonstranten nicht übermäßig glücklich über den Fall der Mauer zu sein. Die Iren hatten sich, wie sie erst später erfuhren, auf eine Veranstaltung von Kommunisten verlaufen, die gegen die Wiedervereinigung protestierten. „Wir malten uns schon die Schlagzeilen aus“, scherzte Bono später: „U2 protestieren in Berlin gegen den Fall der Mauer.“

Doch so lustig sollte es nicht bleiben. Bono und The Edge waren auf der Suche nach einem neuen U2-Universum, das auch Drum-Computer, House-Music und scheppernde Industrial-Gitarren einschloss. Zu ihrer musikalischen Grundnahrung zählten damals die Noise-Avantgarde um My Bloody Valentine, KMFDM und Nine Inch Nails, aber auch die neuen Bilderstürmer aus Seattle, Detroit und „Madchester“.

Zu dumm, dass Adam Clayton und Larry Mullen Jr. keinerlei Draht dazu hatten. In Mullens Fall ging die Desorientierung gar noch einen Schritt weiter: Nachdem er tagelang untätig in einem Berliner Hotel gesessen hatte, musste er erst im Dubliner U2-Büro anrufen, um die Adresse der Hansa-Studios herauszufinden. Dort angekommen, ließ er seinem Ärger freien Lauf. „Als wir nach Berlin kamen“, zitiert ihn Bill Flanagan in seinem Buch „U2 At The End Of The World“, „befanden wir uns mit einem Mal musikalisch auf völlig verschiedenen Ebenen. Einige Mitglieder der Band freundeten sich schneller mit der neuen Marschrichtung an als andere – was sich als ungeheure Zerreißprobe erwies. Keiner hatte auch nur den leisesten Schimmer, worüber der andere sprach.“

Produzent Daniel Lanois teilte Mullens Unbehagen. Eine seiner Auseinandersetzungen mit Bono erstreckte sich über zwei Tage und endete fast in einer Schlägerei. „Ich dachte wirklich, sie würden sich gleich prügeln“, erzählte Toningenieur Flood später der irischen Zeitschrift „Hot Press“. „Aber letztlich war es nur ein Indiz dafür, wie schwierig es war, dieses Album in trockene Tücher zu kriegen.“

Co-Produzent Brian Eno, der 14 Jahre zuvor am gleichen Ort an Bowies „Heroes“ gearbeitet hatte, schaute sporadisch rein und versuchte, die babylonische Sprachverwirrung zu lösen. Er führte ein semantisches Koordinatensystem ein, das dabei helfen sollte, den Umbruch zu kanalisieren. „Trashy“, „throwaway“, „dark“, „sexy“ und „industrial“ waren musikalische Wegmarkierungen, die erwünscht waren, während Adjektive wie „earnest“, „polite“, „sweet“, „righteous“ und „rockist“ in den Abfallkorb der Geschichte wanderten. So wie die U2 der 80er-Jahre zu klingen, war schlichtweg verboten.

Und es war Berlin selbst, das mit seinem lädierten Charme viel zu dem Ambiente des Albums beitragen sollte. „Berlin“, schrieb Eno im ROLLING STONE, „wurde der konzeptionelle Background für das Album: Das Berlin der Dreißiger – dekadent, genusssüchtig, sinister –, im Kontrast zu dem wiedergeborenen, chaotischen, optimistischen Berlin der Neunziger, schien perfekt eine Kultur am Scheideweg zu illustrieren.“

Die Songs, die Bono in Berlin ausbrütete, wurden inhaltlich aber noch von einem weiteren Faktor geprägt: der Scheidung von The Edge und seiner Frau Aislinn O’Sullivan. Nach sieben Jahren und drei Kindern war die Beziehung bereits vor den Berlin-Sessions in die Brüche gegangen – nach der Rückkehr war die Trennung nur noch Formsache. Als der Gitarrist später einmal nach dem Tenor des Albums befragt wurde, sagte er nur: „Untreue.“

„Das war eine der traurigsten Erfahrungen meines Leben“, erinnerte sich Bono in „Hot Press“. „Ich war ihr Trauzeuge, und an ihrer Trennung hatten wir alle zu knabbern. Gleichzeitig rumorte es innerhalb der Band, auch in unserem Umfeld, und trotzdem musste ich weiterarbeiten.“ Auch Adam Clayton gab zu Protokoll, dass die Scheidung nicht die einzige Quelle der Spannungen gewesen sei, sondern dass „mit diesem Album einfach alles zu bröckeln begann“. Sicher, U2 waren schon immer Meister in der Inszenierung ihres eigenen Mythos: Mini-Dramen wurden gern zu endlosen Seifenopern aufgeblasen. Neil McCormick, langjähriger Freund der Band und Autor des Buches „Killing Bono“, behauptet aber, dass die Geburt von „Achtung Baby“ tatsächlich prekärer gewesen sei als jede andere. „Die Aufnahmen waren eine Tortur“, sagte er „Uncut“. „Bis zu einem gewissen Grad ist das bei U2 nichts Ungewöhnliches: Ihre Sessions sind immer ein gegenseitiger Zermürbungsprozess. Beim letzten Album, ‚No Line On The Horizon‘, warf Chris Thomas, der einst die Sex Pistols so genial produzierte, nach einem Jahr das Handtuch. Nach einem Jahr! Sie laugen die Leute regelrecht aus – und sich selbst auch, weil sie sich so viel abverlangen.“

Auch wenn die Geburt schwer war: Irgendwann platzte dann auch bei „Achtung Baby“ der Knoten, ausgelöst durch eine Ballade, die in weniger als einer halben Stunde geschrieben wurde. Bis heute bleibt „One“ einer der größten Songs in ihrem gesamten Repertoire. Das gospelähnliche Lamento wurde mehrfach als Nachruf auf die gescheiterte Ehe von The Edge interpretiert, auch als Hommage an Bonos Maler-Freund Guggi, dann wieder als ein Kommentar zur deutschen Wiedervereinigung oder als Dialog zwischen einem Vater und seinem AIDS-kranken Sohn. Bono selbst sagte einmal, dass der Song letztlich von U2 handele, die in einem kalten Berliner Winter irgendwie noch die Kurve kratzten.

Gut möglich, dass auch in der letzten Interpretation ein Funken Wahrheit steckt. Doch als man im März 1991, nach fünfmonatiger Arbeit, mit gerade mal zwei fertigen Songs wieder nach Dublin fährt, brennt die Hoffnung nur auf kleiner Flamme.

„Achtung Baby“, im Frühjahr und Sommer ’91 fertiggestellt, ist die erste der post-modernen, dadaistischen, ironietriefenden Neuerfindungen, die U2 durch ein chaotisches Jahrzehnt begleiten werden. Es mag die bislang persönlichsten und introvertiertesten Lyrics enthalten, spricht aber gleichzeitig die seismischen Veränderungen an, die sich zu Ende der Reagan-Thatcher-Ära in Gesellschaft, Politik und Musik abzeichnen. Während das Album entsteht, wird Nelson Mandela aus der Haft entlassen, zieht Amerika in den ersten Golf-Krieg und startet das World Wide Web in der Schweiz seinen Siegeszug. Am Vorabend der Veröffentlichung zerfällt die Sowjet-Union, erschüttern Revolutionen den Ostblock, während auf dem Balkan der Bürgerkrieg ausbricht. Zur gleichen Zeit veröffentlichen Primal Scream „Screamadelica“ und Nirvana „Nevermind“, der Ecstasy-Underground wird zum Mainstream, und mit „Lollapalooza“ geht erstmals ein Alternative-Musikzirkus auf Reisen. Rund um den Globus stehen die Zeichen auf Veränderung.

„Es ist wirklich ein Album, das eine Momentaufnahme des damaligen Lebensgefühls war“, meint McCormack. „Es war das Ende der optimistischen, selbstsicheren, nassforschen Achtziger – und am Horizont machte sich langsam etwas bemerkbar, das irgendwie ominöser, undurchschaubarer, verschwommener erschien. Der Querverweis mag vielleicht ein wenig hoch gegriffen sein, aber es war nun mal das Ende der Sowjet-Ära – und mit diesem Gefühl des Zusammenbruchs kam die Hoffnung auf Veränderung, auch wenn man sich nicht sicher war, ob es nun unbedingt positive Veränderungen sein würden.“

Als die erste Single „The Fly“ im Herbst 1991 die Charts eroberte, ließ Bonos kafkaeskes Alter Ego, das aus dem Schlund einer albtraumhaften Metropolis aufzutauchen schien, an dem frömmelnden Gutmenschen-Image seines Trägers kein gutes Haar. Mit schwarzem Leder und einer Brille, die eher an Insekten-Augen erinnerte, morphte er sich in einen Anti-Bono, der seine Bonhomie nun als „Pest“ abtat. „Wenn ich diese Sonnenbrille aufsetze“, sagte er dem ROLLING STONE, „ist alles möglich. Ich habe gelernt, mit gezinkten Karten zu spielen, ich habe gelernt zu lügen – und ich habe in meinem ganzen Leben nie mehr Spaß gehabt.“ Unter der Maske von „The Fly“ lernte Bono die Lektion, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen.

Im November 1991 wurde „Achtung Baby“ endlich veröffentlicht. Es beginnt mit einem dicht geknüpften Teppich metallischer Gitarren-Sounds, die sich von den bodenständigen Sepia-Stimmungen des Vorgänger-Albums demonstrativ absetzen. „Zoo Station“ ist ein ungebremster Adrenalinstoß Richtung Zukunft: kalt, großstädtisch, auch ein wenig beängstigend. Auch wenn das Album – wegen rhythmusintensiver Tracks wie „Even Better Than The Real Thing“ und „Who’s Gonna Ride Your Wild Horses“ – oft als U2s Antwort auf die damals boomende Club-Kultur interpretiert wird, wirken die vermeintlichen Disco-Einflüsse im Rückblick doch etwas bemüht. „Ich erzählte einem Interviewer, dass es ein dense (dichtes) Album sein werde“, so Bono zu Bill Flanagan, „woraufhin kolportiert wurde, dass es sich um ein Dance-Album handeln würde.“ Auch wenn der neue Hedonismus in den Vordergrund drängte, so war die gute alte christliche Sinnsuche nicht völlig vergessen, sondern erfuhr allenfalls eine Umsiedlung in die schöne neue Welt. In „Until The End Of The World“ schlüpft Bono nicht mehr in die Rolle von Jesus, sondern spielt diesmal Judas.

Gleichzeitig wimmelt es in „Achtung Baby“ vor sexueller Symbolik, und das Scheitern ehelicher Treue ist eins der Schlüsselthemen. Die fast TripHop-artigen Tracks „So Cruel“ und „Love Is Blindness“ evozieren den Zustand gnadenloser Einsamkeit. Das hypnotische „Mysterious Ways“ ist verspielter, ein schmachtendes Ständchen, während „Acrobat“ die Scheinheiligkeit des Erzählers als Künstler und Liebhaber thematisiert: “ I must be an acrobat to talk like this and to act like that.

In Momenten, in denen er sein Visier hochklappte, ließ Bono durchblicken, dass die unterschwellig thematisierte Sexualität, konkret: die Treue-Frage, auch einer problematischen Phase in seiner Ehe mit Ali geschuldet sei. „Es gab Probleme in unserer Beziehung“, gestand er Bill Flanagan. „Jeder wird mit der Tatsache konfrontiert, dass sexuelle Treue eigentlich gegen die menschliche Natur verstößt … Ob ich über eigene Erfahrungen spreche? Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

Das poppig-spielerische Album-Cover, collagiert von Anton Corbijn, schien eine neue Lässigkeit zu signalisieren – die gleiche frivole Oberflächlichkeit, die auch Bonos Fly-Persona propagiert, wenn sie in die schale Welt des glitzernden Ruhms eintaucht: “ Let’s slide down the surface of things„, wie es in „Even Better Than The Real Thing“ heißt. In diesen Zusammenhang scheint auch der scheinbar beiläufig gewählte Albumtitel zu passen, der sich auf eine Zeile aus Mel Brooks‘ „The Producers“ bezieht. „Sicher“, sagt McCormick, „das Gesamtpaket erscheint aufregend bunt, aber der Eindruck täuscht. Inhaltlich ist das Album eher ein düsterer Zustandsbericht unserer Zeit. Es ist nicht ironisch, es ist nicht aufgesetzt, es ist nicht im Ansatz gekünstelt. Die ganze Ironie steckt in der Verpackung. Es mag schwarzen Humor auf dem Album geben, aber als Ganzes gibt es ein beunruhigendes Statement über die Natur der Versuchung und die menschliche Seele ab.“

Selbst 20 Jahre später ist „Achtung Baby“ noch immer U2s vielschichtigstes Album. „Es ist wahrscheinlich die komplexeste Platte, die wir je gemacht haben“, sagte Bono dem ROLLING STONE. „Es steckt viel Blut darin, viel Mut, viel Seele. Ich glaube, die Songs strahlen so hell, weil sie sich gegen dieses trashige Umfeld umso mehr abheben.“

Während „Achtung Baby“ noch doppelbödig und bittersüß rüberkam, zelebrierte die anschließende Tournee den Superstar-Overkill als Orgie im Gorilla-Format. Vor dem Hintergrund einer futuristischen Metropolis, von William Gibson inspiriert, präsentierte die Bühne 36 TV-Sets und riesige Video-Wände, die nonstop Nachrichtensendungen, satirische Beiträge und Video-Botschaften zeigten. In einem Interview für „Zoo TV“ stellt Tour-DJ BP Fallon damals Adam Clayton eine eigentlich unverfängliche Frage: ob es etwas in seinem Leben gäbe, das er noch nicht besitze, sich aber sehnlichst wünsche. „Naomi Campbell“, war die lapidare Antwort. Wenige Monate später waren die beiden ein Paar, bald sogar verlobt – und der Bassist wurde über Nacht zum Yellowpress-Star, neben dem sogar Bono zeitweise verblasste.

U2 wären nicht U2, wenn sie nicht trotzdem versucht hätten, ihre alten Ideale in die neue Ironie einzuschleusen – auch wenn sie beim Zäumen ihres Trojanischen Pferdes oft genug etwas unbeholfen und desorientiert wirkten. „Ich glaube nicht, dass U2 in den 80er-Jahren eine Rock’n’Roll-Band war“, gestand Bono dem „NME“. „Wir waren die lauteste Folk-Band der Welt. Inzwischen sind wir eine Rock’n’Roll-Band – und ich habe gelernt, die gleichen Statements etwas intelligenter zu verpacken.“

10. Mai 1993. Die „Zooropa“-Roadshow beginnt in Rotterdam mit einem Paukenschlag: Die Einstürzenden Neubauten, als Vorgruppe verpflichtet, werden umgehend wieder nach Hause geschickt, nachdem sie eine Eisenstange ins johlende Publikum geworfen haben. Als er nach dem Gig ins Hotel kommt, findet Bono ein drei Meter großes Kruzifix – das Geburtstagsgeschenk seines Freundes Gavin Friday. Es ist Bonos 33. Geburtstag, und die Inschrift auf dem Kreuz lautet: “ Hail Bono, King Of The Zoos„. Nur der Herrgott weiß, dass es nicht leicht ist, Bono zu sein …

Der Sänger hatte sich inzwischen in den faustischen MacPhisto verwandelt – halb kabarettistischer Satan, halb postmoderner Elvis in Goldlamee. Er selbst nannte ihn „The Fly in seiner Vegas-Phase“ und schlug vor, die Shows mit „Can’t Help Falling In Love“ zu beschließen. Nach dem letzten Ton hörte man über die Lautsprecheranlage eine Stimme: „Elvis is still in the building!“

Bald besaßen U2 ein Hotel, einen Nightclub – und das heißeste Adressbuch der Welt. Die Prominenz auf der Tour-Gästeliste umfasste Romanciers und Politiker, Models und Mode-Designer, Regisseure und Filmstars. Axl Rose, Mick Jagger, Allen Ginsberg, Bob Geldof, Wim Wenders und William Gibson schauten vorbei. Als die Tournee Ende 1993 in Japan und Australien auf ihre letzten Etappen ging, schienen die Spannungen, die die Aufnahmen von „Achtung Baby“ zur Tortur gemacht hatten, größtenteils verflogen zu sein. The Edge, inzwischen mit Tour-Tänzerin Morleigh Steinberg liiert, erzählte dem ROLLING STONE, dass es ihm erheblich besser gehe, „auch wenn ich mein Privatleben noch nicht wieder ganz im Griff habe“. Kurz vor dem Tour-Finale versuchte sich Bono als Prophet und sah in die Zukunft der Band: „Einer von uns muss in einem Autounfall umkommen. Einer muss in die Entziehungsanstalt. Einer von uns sollte heiraten. Und einer von uns muss ein Mönch werden.“

Die Hochzeit mit Naomi Campbell sollte laut Clayton nun endlich Anfang 1994 stattfinden. Bono, der von Campbells Einfluss auf Clayton angetan war, muss wohl bereits eine dunkle Vorahnung gehabt haben, als er sagte: „Wenn Adam einmal zur Flasche greift, gibt es kein Zurück mehr. Solange er mit Naomi zusammen ist, ist er halt gezwungen, stabil zu bleiben.“ Doch am 28. November, bei der vorletzten Show in Sydney, begann die Fassade zu bröckeln. Nachdem er erfahren hatte, dass Campbell wieder zu Robert De Niro, ihrem früheren Freund, zurückgekehrt sei, betrank sich Clayton so hemmungslos, dass er erstmals in seinem Leben einen U2-Gig verpasste. Bono musste auf der Bühne verkünden, dass ihr Bassist „krank“ sei und Roadie Stuart Morgan einspringen müsse.

Da das Konzert von einem Film-Team aufgezeichnet werden sollte, erwies sich der Aussetzer als doppelter Tiefschlag. Der zerknirschte Bassist beteuerte, von nun an dem Alkohol abzuschwören. Clayton und Campbell bliesen ihre Hochzeit ab und trennten sich kurz darauf endgültig. Doch für eine Weile schien die Zukunft der Band mehr als ungewiss. „Wir dachten wirklich“, erzählte Bono später, „das Ende sei gekommen. Wir wollten einfach nicht weitermachen, wenn einer von uns so unglücklich ist, dass er mit der Band keinen Spaß mehr hat.“ Die Expedition ins Supermodel-Celebrity-Weltall hatte die Flügel von U2 fast verbrannt.

Die Reise, die drei Jahre zuvor in Berlin begonnen hatte, endete mit gebrochenen Herzen, lädierten Bandmitgliedern und einem gigantischen Kater. Aber immerhin: The Fly war zerquetscht, und der Karaoke-Elvis hatte endlich das Gebäude verlassen.

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