Unfrieds EM-Urteil: Bastian Schweinsteiger forever – die Sehnsucht nach dem Authentischen

Play it again, Schweini! Im Schwelgen für den non-playing Nationalmannschaftskapitän Bastian Schweinsteiger drückt sich das menschliche Sehnen aus, dass im Leben alles möglich sein soll – und gleichzeitig der Wunsch nach ewiger Stabilität.

Der Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft hat überschaubare und relativ profane Aufgaben. Seitenwahl erledigen, Hände schütteln, Binde tragen, Pokal entgegennehmen.

Dennoch kommt das Amt in größeren Teilen der Gesellschaft vor dem Amt des Bundespräsidenten. Das gilt für Bastian Schweinsteiger und das war auch bei Fritz Walter, Uwe Seeler, Beckenbauer, Rummenigge, Klinsmann, Ballack und Lahm so, den großen deutschen Spielführern nach 1945. Wer jetzt Lothar Matthäus vermisst – das ist der Christian Wulff unter den Kapitänen. Noch ist nicht endgültig klar, ob er das Amt desaströs beschädigt hat, oder ob man ihm nicht doch Unrecht tut.

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Der brave Wehrmachtsoldat Walter verkörpert das Comeback der Deutschen nach dem totalen Wahnsinn, Seeler das treue Rackern für das Wirtschaftswunder, Beckenbauer den Modernisierungs- und Wohlstandsprung der Brandt-Jahre ff., Klinsmann die Europäisierung, Globalisierung und Individualisierung, Ballack die große Chance, die die Übernahme der DDR beinhaltete. Philipp Lahm steht für die Ankunft und das eingelöste Potential der flach hierarchischen Fußballmoderne in Deutschland.

Aber keiner dieser Kapitäne – vermutlich nicht mal Uwe Seeler – war jemals eine derart romantische Projektionsfläche, wie Bastian Schweinsteiger eine ist. Obwohl oder weil er ein Non-playing-Captain ist, jedenfalls zu weiten Teilen.

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Wenn der „Bild“-Folklorist Franz Josef Wagner mit den Worten „Held“, „grau“, „Fluch“, „Schicksal“, „Wunder“ und „Magie“ um sich zu ballern beginnt, dann wird es gefährlich. Aber er weiß halt am besten, dass das Fußballpublikum sich nach den Momenten der großen Emotionen verzehrt. Und Schweinsteiger hat ihnen mit der Held-grau-Fluch-Wunder-Geschichte den maximalen Kick beschert, als er gegen die Ukraine in der 90. Minute eingewechselt wurde und umgehend das 2:0 erzielte.

Gerne wird Schweini mit militärischen Attributen beschrieben

Schweinsteiger, 31, hat Anfang dieser Saison seinen Dauerclub FC Bayern München verlassen müssen – das kann man wohl schon so sagen – weil sein Körper nach 13 Profijahren nur noch bedingt einsatzbereit ist. Für seinen neuen Club Manchester United hat er seit dem 2. Januar genau 20 Minuten gespielt. Das war am 20. März. Im Testspiel vor der EM gegen Ungarn kamen 22 Minuten dazu. Und nun gegen die Ukraine noch drei Ballkontakte. Ein angekommener Pass, ein Fehlpass. Und das Zaubertor, das den Leuten das Herz hat aufgehen lassen.

Rational betrachtet ist die Sache so: Ein lange verletzter Berufsfußballer wird für eine klassische Zeitschinde-Einwechslung gebraucht und schießt gegen einen zurückliegenden Gegner noch ein typisches Kontertor, das aber für Sieg oder Niederlage bedeutungslos ist. Rational betrachtet kann Schweinsteiger auch nicht plötzlich während dieses Turniers mit fünf Minuten hier und zehn Minuten dort auf höchstes Niveau kommen. Die Frage ist vielmehr, ob er grundsätzlich noch mal auf höchstes Niveau kommt.

Aber Fußball wird benutzt, um den Zumutungen der Rationalität und Realität zu entkommen.
Er soll beweisen, dass immer noch alles passieren kann – im Gegensatz zu einem fortgeschrittenen Leben, in dem der Märchenprinz nicht mehr kommen wird, die Stelle des stellvertretenden Stellvertreters das blödeste Arschloch der Abteilung gekriegt hat, Rauchen einen nicht zum Cowboy machte, bloß grau – und auch durch den lebenslang ersehnten Urlaub auf Hawaii am Ende nichts anders geworden ist.

Schweinsteiger ist wie gemacht für eine Sehnsuchtsfolie. Nach dem gewonnenen WM-Finale 2014 haben ihn nicht nur Rechtskonservative für die traditionellen militärischen Analogien missbraucht, die man dem Fußball gerne unterjubelt. Man dachte, das sei nun wirklich überwunden, aber dann wurde in seine blutende Augenbraue der klassische Soldatenmythos hineininterpretiert, den der deutsche Fußball laut Klaus Theweleit von der völkischen Kriegspropaganda übernommen hat; dass nämlich den Deutschen „überlegene Kampfkraft“ auszeichne.

In Wahrheit ist Schweinsteiger wie Kretschmann

In Wahrheit ist bei Schweinsteiger allenfalls die Frisur soldatisch, der Mensch hat etwas komplett Unmilitärisches und Unmartialisches. Auch wenn er versucht staatstragend zu reden, so beinhaltet das immer ein Moment des Komischen und letztlich Authentischen, das er einfach nicht verleugnen kann. Und das macht ihn liebenswert und verleiht ihm neben dem Platz jenes unspektakuläre Charisma, das er auch auf dem Rasen ausstrahlt. Es ist eine Authentizität die auch die politischen Wahlsieger des Jahres haben, Malu Dreyer und Winfried Kretschmann. Far from perfect, aber sehr vertrauenswürdig, weil bei sich. Außergewöhnlich auch, weil – wie sonst nur noch Thomas Müller – ein Gegenpol zu dem allgegenwärtigen Fußballschulen-Typus.

In diesen Tagen steht Schweinsteiger mit seinen grauen Haaren, seinem gedrungenen Körper und dem dazu kontrastierenden Gesicht eines Jungen für jeden von uns, der sich in seinem Inneren unverändert jung fühlt und jung nach außen denkt, aber im Spiegel mit Abnutzungserscheinungen konfrontiert wird und auch von der Außenwelt bedeutet bekommt, dass er alt ist. Das Innere will und kann das nicht verstehen, es will los rennen wie Schweinsteiger gegen die Ukraine, in der eigenen Hälfte, über den ganzen Platz und dann den Ball nehmen und mit einem Dropkick in das Tor des Gegners rammen, dass es nur so scheppert.

In dem Bangen, Hoffen und Sehnen rund um die Figur Schweinsteiger drückt sich aber nicht nur das Sehnen aus, dass wieder alles möglich ist; sondern gleichzeitig auch der Wunsch nach Stabilität, Nicht-Veränderung, einer immerwährenden Gegenwart. Schweini forever. Das ist die Sehnsucht nach einem ewigen Leben. Es soll alles möglich sein, aber wir wollen auch nicht, dass sich für uns etwas ändert. Daher die Substitutionsfläche Fußball.

Also: Schweinsteiger soll heute im dritten Vorrundenspiel gegen Nordirland eingewechselt werden und furios aufspielen, spätestens im Viertelfinale wieder in der Startelf stehen, wie früher. Und am Ende als Kapitän den Pokal entgegennehmen.

Was aber, wenn Bastian Schweinsteiger sich bei seinem nächsten Einsatz doch als Mann offenbart, der seine Zukunft hinter sich hat? Das ist dann sein Problem. Einige werden weinen, aber die Mehrheit ist opportunistisch genug, um sich sofort eiskalt von ihm abzuwenden und zu sagen: war ja eh klar.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

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