Unfrieds Urteil: Schmeißt eure Smartphones weg!

Soll man sein Smartphone wegwerfen, um die digitale Diktatur zu stoppen? Ein Ortstermin mit Harald Welzer und Richard David Precht.

Der moderne Mensch wird an seiner empfindlichsten Stelle gepackt. Also an seinem Trieb, möglichst bequem zu konsumieren. Weshalb er seine Rundum-Überwachung selbst übernimmt und sich damit einer potentiell totalitären Diktatur von IT-Unternehmen und angeschlossenen Geheimdiensten unterwirft. Diese Diktatur kommt nicht scheppernd und hässlich mit Hakenkreuzen und Vernichtungsformeln daher, sondern mit einer wunderschön glänzenden Oberfläche auf der das Wort „Weltrettung“ eingraviert ist.

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Darüber sprechen der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Philosoph Richard David Precht in einem wunderschön glänzenden Prachtbau einer Kommunikationsagentur am Hackeschen Markt in Berlin. Zwei Public Intellectuals des 21. Jahrhunderts, die aber schon auch aus dem Fernsehen bekannt sind (und dem Internet, selbstverständlich).

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Es ist also gestopft voll. Und es ist super spannend. Trotzdem kriegen die zwei Girls neben mir nicht mit, wie ihnen ihre Freiheit von digitalen Geräten aus dem Silicon Valley geklaut wird. Weil sie einfach zu beschäftigt sind, über ihre Smartphones ihre Daten abzuliefern und individuell maßgeschneiderte „Informationen“ aller Art zurückzubekommen. Das ist die Realität. Wenn man das zu Welzer sagt, dann ruft er mit seiner hellen Stimme: „Abwarten!“ Da tue sich was.

Harald Welzer 2012 in der Schaubühne Berlin.
Harald Welzer 2012 in der Schaubühne Berlin.

Welzer, 57, war ein ordentlicher Professor, der über Nazis forschte, wie sich das gehörte. Dann entdeckte er das zentrale Problem des 21. Jahrhunderts: Den Klimawandel. Gründete die Stiftung futurzwei, zuständig für „Zukunftsfähigkeit“. Und hat sich nun der Digitalisierung zugewandt. Sein soeben erschienenes Buch „Die smarte Diktatur“ (S. Fischer) hat erwartungsgemäß Empörung bei den digitalen Enthusiasten ausgelöst, die (ihren) Wirtschaftserfolg mit Weltrettungsbehauptungen verknüpfen. „11 irre Thesen zur Digitalisierung“, schreibt „Gründerszene“. Und versucht, sie jeweils zu kontern.

Auch Digitalisierung frisst Ressourcen

Die Thesen von Welzer sind aber nicht wegzuwischen, findet Precht, 51, der an diesem Abend den mitdiskutierenden Moderator gibt. Die Probleme seien so groß, dass sie zentrales Thema eines Bundestagswahlkampfes sein müssten. Aber keine Partei habe das als zentrale Agenda. Stattdessen werde über Maut geredet. Oder demnächst über Rente. Scheindiskussionen, den Leuten etwas hinwerfen, damit sie beschäftigt und abgelenkt sind, das lernt man in der ersten Stunde einer stellvertretenden Stellvertreter-Führungspersonal-Fortbildung.

Die zentralen Punkte von Welzer – neben dem bequemen Konsumbedürfnis als Treiber der Selbstüberwachung, Vereinzelung und des Freiheitsverzichts: Das Digitale ist fossil. Und: Das durch die Aufklärung überwundene Schicksal kehrt zurück.

Welzer denkt da weiter, wo er in seinem Bestseller „Selbst Denken“ aufgehört hatte. Die Art, wie westliche Industriegesellschaften produzieren und leben, ist am Ende, hatte er da postuliert.

„Fossil“ sei die Digitalisierung erstens im übertragenen, zweitens im wortwörtlichen, also energetischen Sinne. Sie löst die Probleme nicht, sondern verschärft sie. Die Behauptung, Digitalisierung sei „grün“, schone Ressourcen und reduziere Energieverbrauch, erklärt er für absurd. Das den Klimawandel anheizende, Lebensbedingungen und damit Gesellschaften zerstörende kapitalistische Wachstumsprogramm werde durch Digitalisierung nicht gestoppt oder gebremst; der Konsum und der damit verbundene Umwelt- und Naturverbrauch werde sogar noch gesteigert. Konkret: Ressourcen- und energieintensive Smartphones in immer kürzeren Abständen kaufen und wegwerfen, ist einfach nicht nachhaltig.

Dazu kommt: Precht denkt, dass dreiviertel der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor in den nächsten Jahren wegfallen werden. Das nennt man Effizienz und das ist es aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht ja auch. „Die Macher verstehen nicht, was durch Effizienz alles zerstört wird“, sagt Precht. Das nennt Welzer „die Rückkehr des Schicksals“. Im Feudalismus war das Leben durch den Zufall der Geburt festgelegt. Bauer blieb Bauer. Im besten Fall. Die aufgeklärte Gesellschaft hat Ausgangsunterschiede durch den Sozialstaat ausgeglichen oder abgemildert. In der neuen Share-Economy-Welt sieht er Viele zurückgeworfen in die Voraufklärung. Sie tragen zu Markte, was sie haben, etwa ein Auto, um Uber-Taxi zu fahren. Ein Zimmer, um es bei Airbnb zu vermieten. Ohne Arbeitsschutz und Sozialleistungen.

Die Mädchen im Publikum glotzen auf ihre iPhones

 Es ist nicht so, dass Welzer das positive Potential der Digitalisierung abstreiten würde. Aber es kommt darauf an, was sich entfaltet, sagt er. Das sei überwiegend das negative Potential.

Während die Macher des Silicon Valley hochpolitisch agieren, etwa im Zurückdrängen der Politik, sieht er die Gesellschaft weitgehend eingelullt und die politische Diskussion als Partikulargespräch von einigen wenigen geführt und in der Hauptsache auf Überwachung reduziert.

Als Precht ihn fragt, warum er keine „politische Agenda“ geschrieben habe, anwortet Welzer, dass es um die „Re-Politisierung der Gesellschaft“ gehe, um die „Verteidigung eines Gemeinwesens“, das existiere, aber „in Erosion“ begriffen sei. Politisierung beginnt für ihn in dem Moment, da man die Partikularbereiche verlässt und die ökologische, digitale und die Gerechtigkeitsfrage zusammenbringt.

Es geht darum, zu sehen, welche Auswirkungen ein extrem energie- und rohstoffintensiver Lebensstil auf andere Teil der Welt hat, auf Gewalt und Fluchtbewegungen. Zu sehen, wohin das führt, wenn nicht ein politischer Rahmen verhindert, dass der soziale Schutz und die Freiheit des einzelnen weniger wird, bis eines nahen Tages kein Klick mehr gemacht werden kann, ohne dass alle darüber Bescheid wissen, dass man Krebs hat oder Hodenhochstand oder kein Geld mehr.

Die Digitalisierung, sagt Welzer, „befreit die Menschen von der selbst verschuldeten Mündigkeit“. Das klingt seltsam, aber das sei ein starker Treiber. Die zwei Girls, die an diesem Abend neben mir im Foyer des Werbeunternehmens sitzen, wischen über ihre iPhones, als würden sie dafür bezahlt.

Harald Welzer ruft dazu auf, als Geste des Widerstands sein Smartphone wegzuwerfen. Solange das überhaupt noch geht, und man ohne Smartphone nicht mehr arbeiten, zahlen, zum Arzt gehen, Zug fahren kann. Die Frage ist, ob „wir“ in der Lage sind, diese Entwicklung nicht nur konsumierend geschehen zu lassen. Sondern dafür zu sorgen, dass sie anders verläuft. Das ist das Problem der durch die Digitalisierung noch einmal verschärften Individualisierung. Man muss sich zusammentun.

Mit Likes ist das nicht getan.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

Yashoda Getty Images
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