Politik-Blog

Unfrieds Urteil: VW am Abgrund – Es gibt kein schlimmeres Gefühl, als von seinem Auto betrogen worden zu sein

Sie kaufen ein modernes Smartphone. Und kriegen ein Telefonbrikett aus den 90ern. Wer würde sich das gefallen lassen? Genauso ist es mit unseren Autos. Nur viel schlimmer.

„Some things hurt more much more than cars and girls“, sangen Prefab Sprout. Manche Dinge schmerzen mehr als Mädchen und Autos. Aber welche sollten das sein?

Selten hat etwas so viele Schmerzen verursacht, wie der Betrug an Millionen Menschen durch das weltzweitgrößte Automobilunternehmen Volkswagen. Und Fragen aufgeworfen. Ablenkungsfragen wie die Suche nach den „Verantwortlichen“, also einer Hand voll Sündenböcke. Populärsoziologische Bagatellen wie die Frage, ob die Deutschen ihr Auto nun nicht mehr lieben oder die jungen Leuten bestärkt werden, sich anderem Prestigekonsum zuzuwenden. Zukunftsfragen für den Konzern, die Autoindustrie und die deutsche Wirtschaft, für die Autos derzeit noch essentiell sind. Eine wichtige Frage ist für alle Stakeholder, also einen nicht unbeträchtliche Zahl Leute: Wie überlebt VW das und mit welchen Folgen für Angestellte, Zulieferer, Werbeetats, Niedersachsen, Deutschland und Teile der Welt?

Die entscheidende, weil existentielle Frage für Wolfsburger: Was wird aus der Stadt, was wird aus den 60.000 Arbeitsplätzen, was wird aus meiner Familie, meinen Kindern und mir? Verständlicherweise ist das eigene Problem so wichtig, dass der Millionenbetrug argumentativ und emotional möglichst klein gehalten wird, etwa mit Verweis darauf, dass die US-Amerikaner doch auch nicht besser seien. Im Mittelpunkt steht das Solidaritätsmoment: Die Wolfsburger solidarisieren sich mit Volkswagen – was bleibt ihnen übrig in einer Stadt, in der alles Volkswagen ist – und möchten in ihrer Not selbst gern Solidarität erfahren.

„Wofür hält man uns – für Idioten, denen man alles verkaufen und unterjubeln kann?“

Sie haben sie verdient. Aber das kann nicht heißen, dass alles durchgewinkt wird von denen, die grandios betrogen worden sind. Das meint nicht nur die zig Millionen Kunden, die sich Autos gekauft haben, die die Luft nicht verpesten sollten und Autos bekommen haben, die die Luft verpesten. Es meint die ganze deutsche und auch die globale Gesellschaft, deren Schicksal entscheidend davon abhängt, dass die globalen Großkonzerne das einhalten, was sie versprechen. Saubere Produkte. Die nicht die Erde erwärmen und Menschen krank machen. Im Grunde müssen sich jetzt alle fragen: Was wird aus uns? Und: Wofür hält man uns – für Idioten, denen man alles verkaufen und unterjubeln kann?

Die Anti-Bewusstseinsindustrie arbeitet auf vollen Touren, damit die Betrogenen diese Frage nicht ernsthaft verfolgen und dadurch echte Konsequenzen gezogen werden müssen. „Schonungslose“ oder sogar „brutalst mögliche“ Aufklärung zu versprechen, gehört zum Kriseneinmaleins all jener, die im Vertrauen auf die Kurzatmigkeit der Mediengesellschaft weitermachen wollen wie bisher.

Es ist ein Betrug auf ganzer Linie

Aufklärung heißt nicht Sündenböcke finden und feuern, sondern strukturelle und kulturelle Veränderung. Es geht nicht nur um die Orte, an denen der Betrug ausgeführt wird, sondern auch die Orte, an denen der Betrug nicht aufgedeckt wird, weil man die Hand nicht beißt, die einen füttert.
Aber Veränderung herzustellen, traut sich angesichts der Wichtigkeit und der Macht der Autoindustrie vermutlich auch die mächtigste Politikerin nicht. Jedenfalls gibt es dafür in der jüngeren Geschichte von Bundes- und Landesregierungen kein Indiz. Die Bürgergesellschaft muss das selbst in die Hand nehmen.

These: Es geht nicht nur um manipulierte Abgaswerte eines Unternehmens. Es geht auch um die offensichtlich falschen Verbrauchs- und Emissionswerte (CO2) der gesamten Mobilitätsbranche. Also um Betrug auf der ganzen Linie.

Für den Erhalt unseres Wohlstandes und unserer Freiheit brauchen wir unter anderem eine Autoflotte, die die Atmosphäre deutlich weniger mit CO2 auflädt und damit die diversen Entwicklungen der Gegenwart (Flüchtlinge, Hunger, Kriege usw.) nicht dynamisiert.

In den vergangenen 14 Jahren wurden die Emissionen unserer Autos laut den Tests im Schnitt von 170 auf 123 Gramm CO2 pro gefahrenen Kilometer gesenkt. Wenn sich herausstellt, dass die Autos kaum verbessert wurden, sondern nur die Tests, hieße das, dass wir bis zu 40 Prozent mehr Sprit bezahlen müssen, als man uns versprochen hat. Und dass wir flächendeckend Autos erworben haben, die bis zu 40 Prozent mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre blasen. Kurz gesagt: Man hätte uns entgegen den Versprechungen den alten Schrott von früher angedreht. Das ist, als kaufte man Smartphone. Und kriegt ein Ziegelsteinmodell aus der Anfangsphase. Als kaufte man einen Flachbild-Fernseher. Und kriegt ein Schwarzweißmodell aus den 60ern. Wer würde sich das gefallen lassen?

Sie haben uns alten Schrott als neu angedreht

Es gibt Kommentatoren, die kritisieren, dass die angeblich autofeindlichen Grünen nun versuchten, diese Krise zu nutzen, um ihren Hass auf das Benzin- und Dieselauto auszuleben.

Mir sind die Grünen in dieser Angelegenheit völlig egal. Grundsätzlich ist es eine demokratische Mehrheitsentscheidung, ob die einen regieren oder die anderen. Diese Entscheidung akzeptiere ich. Solange die Wahl nicht manipuliert wird.

Wenn aber jemand manipuliert, dann ist Schluss. Das gilt für Wahlen und für Autos.

Es geht nicht darum, dass Autos verboten werden. Dass uns der Spaß genommen wird oder der Luxus. Es geht darum, dass wir nicht weiter betrogen werden. Es geht darum, zu verhindern, dass ein oder mehrere Unternehmen einen für Leistungen bezahlen lassen, die das Auto gar nicht zur Anwendung bringt.
Es geht aber auch um das Fortschritts- und Technikversprechen der deutschen Wirtschaft. Die deutsche Ingenieurskunst: Besteht all das darin, geniale Autos für die Zukunft herzustellen oder Giftschleudern, die mit unserem Geld die Krisen des 21. Jahrhunderts beschleunigen, während sie so tun als würden sie ihnen entgegenarbeiten?

Diese These, dass der Auto-Betrug weit über VW und den Betrug in der Abgassache hinausgeht, muss also jetzt falsifiziert werden – durch Transparenz bei allen Software-Quellcodes und Tests. Oder sie wird verifiziert. Dann wird es richtig krachen.

Es gibt kein schlimmeres Gefühl, als von seinem Auto betrogen worden zu sein.

Peter Unfried ist Chefreporter der taz und schreibt jeden Dienstag exklusiv bei rollingstone.de

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