Unlösbare Puzzles

Egal, wie imposant die Songs von Coldplay sind, im Kopf von Chris Martin klingen sie immer noch besser.

Trotzdem ist der Sänger einigermaßen zufrieden Das Einzige, was Chris Martin wirklich fehlt, ist Zeh. Der Sänger von Coldplay hat zurzeit wenig Sorgen, aber noch weniger Gelegenheit, überhaupt über sein Leben nachzudenken. Er sitzt in einer Limousine auf dem Weg zum Kölner Flughafen, am Abend muss er in Oslo weiterreden über das zweite Album „A Rush Of Blood To The Head“, über seine Angst vor Haarausfall und dem Tod und über die Band, die er „die beste der Welt“ nennt. Momentan überlegt der 25-Jährige allerdings vor allem, wie er die Telefonnummer der tollen Frau, die er gestern kennen gelernt hat, bekommen kann. „Aber das ist mein persönliches Problem. Lass uns über unsere Platten reden. Ich kann keine der beiden anhören, wenn ich ehrlich bin. Gestern habe ich ein paar der neuen Songs gehört, und ich musste mich anstrengen, um nicht die Nerven zu verlieren. So viel Falsches! In meinem Kopf klingt immer alles besser als dann auf dem Album. Songs sind unlösbare Puzzles. Sie gelingen nie hundertprozentig.“

Wie ein „Bündel von Fehlern“ wirke das Album auf ihn, seufzt Martin, aber insgesamt ist die Stimmung bei den vier Briten erstaunlich gut Eine Zeitlang schien es, als würde das Quartett unter dem Druck der Kritik zusammenbrechen: Luschen, Weicheier, Langweiler – was hat man ihnen nicht alles an den Kopf geworfen, gerade nachdem das Debüt „Parachutes“ so erfolgreich war. Aber Coldplay ist es gelungen, sich freizumachen von der Medienschelte aus Großbritannien. Sie gingen einfach in den USA auf Tour. „Dass wir dort so gut ankamen, hat uns viel Selbstvertrauen gegeben, es war ein sehr befreiendes Gefühl. Inzwischen denke ich aber, die Prügel waren gut, denn so wollten wir uns mit aller Kraft weiterentwickeln – und es allen zeigen.“

Zuerst begannen Coldplay, im Londoner Primrose Hill Studio aufzunehmen, aber da war einfach zu viel los. Chris Martin fand sich auf einmal in einer Rolle wieder, die er nie haben wollte: „Wenn du in London lebst, fuhrst du schnell das Leben eines Popstars, das ist so naheliegend. Zu viele Parties. Wir sind irgendwann davongelaufen, weil wir wussten, dass es für uns besser ist, wenn wir nur zu viert in einem Raum sitzen und uns auf unsere Musik konzentrieren. Wir wollten die Songs lernen, das war sehr wichtig. Es war sehr wichtig.“ Immer, wenn Martin etwas betonen will, sagt er es doppelt Und starrt einen lang aus seinen sehr blauen Augen an. Er lächelt oft, aber noch häufiger schüttelt er den Kopfüber sich selbst und seine endlosen Ausführungen.

Jedenfalls zogen Coldplay nach Liverpool, in ein billiges Studio, wo höchstens mal Ian McCulloch vorbeischaute und die Band ansonsten auf sich gestellt war. Es war anscheinend die richtige Strategie, denn Martin schwärmt von der einzigartigen Interaktion zwischen ihm, Drummer Will Champion, Bassist Guy Berryman und Gitarrist Johnny Buckland. Jeder fühlt sich wohl in seiner Rolle, und unsere Band würde sofort auseinanderfallen, wenn einer ausstiege. Wirklich. Wir könnten nicht weitermachen. Jeder ist essenziell.“ Deshalb teilen sie sich die Songwriting-Tantiemen, obwohl die meisten Ideen und alle Texte von Martin kommen. „Für mich ist das Aufregendste auf der Welt, wenn man nur einen Akkord hat oder ein kleines Piano-Stückchen, und dann kommen Guy und Johnny und Will und es wird zu etwas, das man nie erwartet hätte – weniger deprimierend, weniger langweilig. Es ist wie in einer Fabrik, wo jeder ein Teil anschraubt und am Ende wundert man sich, was dabei Tolles herausgekommen ist“

Zum Beispiel der bandinterne Lieblingssong „Politik“- ein lauter Weckruf – wütender als alles, was Coldplay vorher aufgenommen haben. Die meisten anderen Songs entstanden allerdings auf dem Piano und klingen entsprechend zart“Ich schreibe über das Alltägliche.

Mein Großvater hat immer zu mir gesagt, dass man heute leben soll, da man nie weiß, was morgen ist. Wie jeder andere habe ich Angst davor zu sterben und davor, dass ich mich dann nicht genug um geliebte Menschen gekümmert, zu wenig gesehen habe. All das. Tod ist ein Grundthema, aber gleichzeitig ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich über Mädchen singe!“

Etliche Songs wie „God Put A Smile On Your Face“, „In My Place“ und „A Rush Of Blood To The Head“ lagen monatelang herum, bis es Coldplay endlich gelang, sie richtig aufzunehmen. Nebenbei nahm Martin Gesangsunterricht Nachdem er mehrfach seine Stimme verlor und diverse Konzerte absagen musste, hatte er die Faxen dicke und wollte etwas gegen die Ermüdungserscheinungen tun. Aber mit seinem Lehrer merkte er plötzlich, dass er mit etwas Übung viel mehr machen konnte, und das war „aufregend“.

„Aufregend“ ist Martins Lieblingswort. Er benutzt es in jedem dritten Satz. „Echt?“, lacht er. „Naja, mein Leben ist eben – aufregend. Es ist so toll. In einer Welt, in der die Menschen Krieg führen und kein Zuhause haben, ist es ein unglaubliches Privileg, sich vollkommen in der eigenen Musik verlieren zu können. Es ist eigentlich lächerlich. Am Morgen aufzuwachen mit der einzigen Sorge, ob die Bassdrum richtig klingt – das ist Märchenland.“ Er denkt noch ein bisschen nach, schüttelt wieder den Kopf, lacht und hebt dann scheinbar verzweifelt die Hände: „Ich kann nicht glauben, dass das jetzt mein Leben ist Wir alle können es nicht glauben. Wirklich nicht. Können wir nicht“

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