Würstchen, Cocktails, Hustensaft: Eine deutsche Grand-Prix-Komödie in Kiel

Kann sich das Schlichte und Ehrliche in deutschen-Pop-Shows noch durchsetzen? Der Junge mit der Gitarre zog mit einem Friedenslied nach Kiel zur Vorentscheidung des GRAND PRIX und bewies sich selbst das Gegenteil, denn er wurde Vorletzter. Unsere Wahlbeobachterin sollte feststellen, wo das Entertainment-Problem liegt. Fazit: Es liegt nicht an den Shows. Es liegt an den Leuten, die sie machen

Der Taxifahrer hat schon viele Reportageanfänge gelesen und weiß Bescheid. „Der Gummikanzler darf nicht gewinnen“, sagt er ungebeten gleich nach dem Einsteigen. „Sonst denken im Ausland alle, wir sind komplett meschugge: Wir haben ganz andere Probleme. Bei uns hat eine Werft gerade tausende entlassen. Bald fliegen noch mehr Leute raus. Das Schlimmste aber ist, die Menschen in Kiel haben die Hoffnung verloren.“ Ankunft Ostseehalle, ein Trinkgeld als Informantenhonorar.

Im Grand-Prix-Pressezelt ist man am Tag vor dem großen Vorentscheid auch kurz davon die Hoffnung zu verlieren. Man sitzt und trinkt müßig Saftschorlen, denn es gibt nichts zu berichten. Keine Skandale, keine Schlammschlacht unter den hier „Künstler“ genannten Kandidaten. Nach Jahren voller Buhei geht es beim Grand Prix wieder um die Musik, und das macht manchmal Angst.

Vor allem dem Vertreter der „Bild“-Zeitung, erzählt Tobias Schacht, Der Junge mit der Gitarre: „Der geht im Hotel zu allen Mädels, zu den Sängerinnen, zu den Tänzerinnen, und sagt, sie sollen sich doch ausziehen für seine Seite eins.“ Als das nicht fruchtete, habe er nach grausigen Todesfallen im Verwandtenkreis der Künstler zu forschen begonnen. Tobias Schacht macht das böse. Gerne würde er „diesen Klappspaten“ in eine Toilette drängen und ausziehen, damit er danach dann selber nackig herumspringen müsste.

Aber Tobias ist Pazifist und lässt den Klo-Plan bleiben. Schließlich singt er auch in seinem Wettbewerbsbeitrag „Die Seite, wo die Sonne scheint“ vom Frieden. „Ich trete an mit einer Thematik, mit der ich unangreifbar bin“, sagt er. „Ich finde es einfach peinlich, wenn Deutschland vor Europa mit einer Message vertreten wird, die ‚Wadde hadde dudde da‘ heißt oder irgendein Klischeescheiß ist. Ich wünsche mir, dass das etwas Gelebtes ist“. Obendrein sei sein Lied klar und universal. „Zum Beispiel der Refrain, ‚Schein, schein, schein, schein für mich‘. Das versteht in Europa jeder.“

Am Pressezelt-Nebentisch tauscht man sich über die neuesten Krankheitsbilder aus. Seit die Stimmbandschmerzen von „Superstar“-Alexander die Schlagzeilen verstopfen, ist auch die Kieler Künstlerherberge fast gänzlich erkrankt Wie man hört, sei ein Arzteteam heute zu Ralph Siegel geeilt, bei der Sängerin Aynur munkelt man von einer Eierstockentzündung, Isgaard ist erkältet, Sascha Pierro spürt auch schon was, und Kanzler-Imitator Elmar Brandt liegt ebenfalls malad zu Bett. Man soll ihm sogar etwas gespritzt haben, intravenös.

Ausfallen wird die Show dennoch nicht: Ein Lied kann eine Krücke sein. Der Junge mit der Gitarre ist einer der wenigen Gesunden. „Ich habe keine Ausrede für morgen abend“, sagt er. Und er würde gerne nach Riga fahren: „Weil ich glaube, dass die anderen Songs oberflächlicher sind als meiner. Es würde Deutschland gut tun, wenn ich fahren würde und nicht eine von diesen produzierten Pfeifen.“ Und wenn die Deutschen doch den Gummikanzler wählen? „Dann ist mir das auch egal. Ich suche hier nicht nach Berechtigung.

Der Grand Prix kann froh sein, dass ich dabei bin.“ Nur Letzter will er natürlich nicht werden. „Aber das werde ich auch nicht“

Aus riesigen Schläuchen wird heiße Luft in das Pressezentrum gepumpt. Auf dem Weg hinter die Bühne müssen alle Künstler das Zelt durchschreiten, werden dann gerne mal an eines der Tischchen gezogen, die mit Buttons überborden, die das in Baumarkt-Maskottchen-Manier stilisierte Gesicht der Siegel-Kandidatin Lou zeigen, und interviewt Die Tischchen stehen eng. Das ist sehr angenehm: Man muss selbst mit niemandem reden, sondern kann behaglich sitzen bleiben, gaffen und lauschen.

Gerade wird zur Rechten der Sänger der christlichen Band Beatbetrieb aus dem Schwäbischen befragt ob er sich auch schon krank fühle. Er sagt: „Och naja.“ Was er macht, damit er nicht krank wird? Er wird früh schlafen gehen und vorher schön duschen, „und ihr könnt ja für mich beten.“ Dass er das ernst meint wird ein paar Stunden später klar. Nektarios, nach pressatmiger Darbietung eines Xavier-Naidoo-Titels ausgeschiedener „Superstar“-Kandidat, ist als Gesundbeter für Beatbetrieb angereist die denselben Produzenten haben wie er.

„Ihr Song ging bei mir voll auf die Zwölf, wir haben dieselbe attitude, wir sind jung im Musikbiz, Musik ist was Schönes, Musik muss man teilen, und auch im „Superstar“-Finale wird die Musik gewinnen“, sagt Nektarios in Mikrofone. Dann sagt er für einen Radiomoderator namens Mittmann noch mehrmals „Bei Mittmann mach ich mit Mann!“. „Alles wird mir möglich sein“, singt dann der Sänger von Beatbetrieb, und Nektarios quetscht ein knödeliges „möglich sein“ drübet Auch für die kranken Künstler hat er noch ein gutes Wort: „Echinazin“. Ein Mann mit Mützchen, der möglicherweise Laith Al-Deen ist, steht daneben und lächelt rätselhaft.

Derweil sickert am Tischchen zur Linken das Rezept für den „Grand Prix Spezial“-Cocktail durch, der bei Künstlers im Hotel serviert wird: Cognac! Vanillesirup! Maracujasaft! Sahne! Ralph Siegel soll sich das in größeren Einheiten hinter die Binde kippen, habe der Barkeeper geplappert Der Junge mit der Gitarre kann zu den weiteren Vorkommnissen in der Bar wenig Erhellendes beitragen, weil er erst gar nicht hingeht Abgrenzung sei wichtig. Sein Vater, der ihn auf dem Klavier begleitet, gibt erst gar keine Interviews, „Bild“ lässt ihn in Ruhe, weil er ein Mann der Kirche ist“, sagt der Sohn. Statt dessen führe er bei Tisch geistliche Gespräche mit dem Bassisten: „Er steht hier wie ein Eisenpfosten im Wackelpudding.“

Unterdessen ist Bernhard Brink eingetroffen, sagt Sachen wie „Ralph Siegel kennt TED ja persönlich“ und vollführt schlechte Kohl-Imitationen. Man bleibt gefasst. Morgen soll es Bier geben.

Lou sieht man nicht im Pressezelt. Sie fuhrt in der Lobby des Künstlerhotels ein Handygespräch mit Schatzi und Hase. Die Rede ist von einem weiteren Krankheitsfall: Eine Mitwirkende ihrer Gruppe habe sich im Unverstand betrunken, obwohl ihr doch schon die ganze Zeit übel war. Wer wohl? Eine der beiden Keyboard-Bedienerinnen? Die Halbnackte mit den goldenen Stulpen gar, die bei,,Let’s get happy“ den illustrierenden Sexy-Tanz auffuhrt? Zwei Lou-Mitarbeiter frisieren derweil am öffentlichen InternetTerminal in der Lobby die Klickstatistik der Lou-Fanpage. „Sagen wir: 7000 Klicks“, sagt der eine. „Nee, nicht ‚Klicks‘, da weiß der Ralph wieder nicht, was das ist“, sagt die andere, „und wie viele haben beim Preisausschreiben mitgemacht?“ „Sagen wir: 500?“, fragt der eine. „Nee, nicht 500. Das ist eine zu glatte Zahl“

In der Ostseehalle sind die so genannten Fans am Abend jedenfalls zum Teil mit orangen Federboas und alle mit Lou-Winkeköpfen aus Pappe ausgestattet. Ein Paar, das nah am Gitarrenjungen-Fanblock sitzt, verzehrt behaglich mitgebrachte Würstchen aus einer Brotzeitdose, um das leergegessene Behältnis sodann randvoll mit den Gratis-Pfefferminzbonbons und lila Lou-Ansteckern zu befüllen, die am Eingang verteilt werden. Die Tobias-Fans haben Sonnenblumen und dezente Transparente dabei. Die Friedenszeichen, die sie sorgsam aus Pappe ausgeschnitten hatten, mussten sie abgeben, weil Stöckchen untendran waren, mit denen man sich hätte kloppen können.

Grund zum not gibt es erst mal keinen. Nach der irre trippelnden Charlemaine mit weißer Leibbinde (die nicht Bauchweh lindern, sondern flächig über die Hose quillendes Bauchfleisch zurückhalten soll) schlägt sich Tobias mit dem gerne „schlicht“ genannten. „Die Seite, wo die Sonne scheint“ wirklich wacker. Beste Haltungsnoten auch für den Vater, der ruhig und aufrecht auf dem Klavier-Höckerchen sitzt, denn die meisten seiner Kollegen missfallen durch blöde Playback-Posen: Der Pianist von Sascha Pierro etwa bewegt das Gesäß auf und nieder, als reite er auf einem ungestümen Zossen durch die Taiga, der von Freistil zuckt wüd mit den Schultern. Nach dem Jungen kommt Lous High-Energy-Reißer – klingt, als hätte Ralph Siegel hier verarbeitet, was ihm durchreisende Schlawiner so von ihren Discobesuchen erzählen. Das Lou-Fanpärchen schwenkt froh die Wurstdose und schwenkt sie noch, als Lou am Ende tatsächlich gewinnt.

Der Eingang zur Aftershowparty in einer alten U-Boot-Montagehalle ist eng. Durch diese Schmalstelle müssen sich Sieger wie Verlierer drücken, um zu Spießchen und Schnaps zu gelangen. „Mein Beitrag war ein Angebot. Wenn Deutschlands Botschaft aber heißen soll: „Let’s get happy and let’s be gay‘, na gut Kunst braucht keine Mehrheit“, sagt der Junge mit der Gitarre, „lass uns saufen.“ Tief drinnen in der Halle zeigen Frauen in einer Ecke, wie man Zigarren rollt. Das Servicepersonal ist sämtlich an wechselnden Stellen mit Liedzeilen beschriftet (viele von Queen), und bei der Cocktailbar im ersten Stock sind die vier Barmänner immerfort mit der eifrigen Jonglage von Shakern, Gläsern, Flaschen und dann wieder Shakern beschäftigt, drehen sich gelegentlich weg, um ihr Lachen zu verbergen und schenken nur ausnahmsweise mal was aus.

Der Junge mit der Gitarre sitzt auf einem cremefarbenen Sitzquader und guckt schief. „Rate mal, wievielter ich geworden bin“, sagt er. Siebter vielleicht oder achter? Zehnter? „Vorletzer“, sagt er, zieht das Wort in die Länge und will einen Cocktail mit viel Alkohol. Ein Stockwerk tiefer findet das etwas zu schmierige Kartoffelgratin reißenden Absatz.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates