WM-Blog: Wer 1-0 führt, der oft verliert

Das Ende des Anfangs, Deutsche Romantik und Wasser im portugiesischen Wein - WM-Blog, Folge 5

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Der Filmjournalist, Kritiker und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland schreibt hier über die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien.

WM-Blog: Wer 1-0 führt, der oft verliert

Das Schönste an großen internationalen Fußball-Turnieren sind nicht die Endspiele, sondern die Anfänge. Die ersten Tage, wenn jede jungfräulich ins Geschehen eingreifende Mannschaft erwartungsvoll begrüßt wird, und sich der Charakter des Turniers erst vage zu formen beginnt. Wenn alles flüssig ist und voller Erwartung. Dies ist die Stunde der Prognosen. Bald dann wird es ernst, die ersten werden nach Hause fahren, die anderen werden taktieren. Und die Prognosen werden über den Haufen geworfen. Manche allerdings auch nicht.

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Die ersten Glückwünsche kamen ausgerechnet aus Spanien: „Thank you. So glad to see this result against Cristiano und Co“, texte Violeta aus Barcelona nur wenige Minuten nach dem 4-0 gegen die Portugiesen. Nun muss man wissen, dass Violeta als eingefleischter Fan des FC Barcelona (mit Dauerkarte) nichts mehr hasst, als Real Madrid – und neben Ronaldo dann wohl vor allem an die Verletzung von Coentrao und die rote Karte für Pepe gedacht hat.

Deutschland gegen Portugal – das war natürlich eine große Show. Die deutsche Aufstellung war überraschend und klug, die rechte Seite deutlich stärker und offensiver, die Linke bewusst schwach, als wolle man die Portugiesen, einladen, ihr Spiel zu verlagern, also auch eindeutig gegen Ronaldo gerichtet, und vielleicht die bessere Variante gegenüber der Möglichkeit Großkreutz direkt auf Ronaldos Füße zu stellen. Zudem spielte man insgesamt defensiver, zurückhaltender, kein blinder Hurra-Sturm, aber dann pfeilschnelle, sehr direkte Gegenstöße. Steil, nicht quer wie so oft, und immer wieder das Tempo plötzlich anziehend. Gegen die harten Abwehr-Hammer aus Portugal setzte Löw auf Techniker und auf ein starkes Mittelfeld, das seine Position immer wieder verlagern konnte, und dadurch höchst unberechenbar blieb. Am beeindruckendsten war für mich Toni Kroos, nicht Lahm, der zum Zentrum einer Art 4-6-0-Systems (oder 4-2-4-0 oder 4-3-3-0) wurde, und drei Torvorlagen gab.

Müller, das bayrische Tier, schoss in seiner nun wirklich bedenklichen Unbekümmertheit drei Tore. Schön für ihn, schön für uns. Was es bringt, außer noch bessere Angebote aus England, muss man mal abwarten.

Schließlich eine bemerkenswerte Fußnote zu Löws Aufstellung: Man konnte und durfte sie wohl auch als Anti-Guardiola-Aufstellung interpretieren, weil Löw genau den drei Spielern von Anfang an vertraute, die sich bei Guardiola vernachlässigt fühlen, und zum Teil sogar mit Abwanderungsgedanken spielen.

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Um dennoch, wie man das ja von uns nicht anders erwartet, etwas Wasser in den Wein zu schütten: Drei der vier deutschen Tore wurden aus Standardsituationen erzielt, und die rote Karte schon in der ersten Halbzeit hat den Gegner auch nicht stärker gemacht.

Das Sorgenkind bleibt nach wie vor die deutsche Abwehr. Sie stand erst in der zweiten Halbzeit sicher, als Portugal nur noch um Schadensbegrenzung und Energieersparnis bemüht war. Davor hatte, so ehrlich muss man sein, auch Portugal zwei Chancen, die sie halt nur nicht genutzt hatten, und ein paar Gelegenheiten mehr.

Und um noch die Statistik zu bemühen: Auch 2006 und 2010 startete Deutschland mit vier Toren in die WM. Am Ende kam das Aus im Halbfinale. Und selbst ein 8-0 zum Auftakt sagte 2002 noch nichts über deutsche Titelchancen. Die größte Gefahr für Deutschland, nicht nur im Fußball, ist immer ein Übermaße an Euphorie. Deutsche Romantik, himmelhochjauchzend …

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Übrigens sollten Berliner möglichst viele WM-Spiele im für vier Wochen wiedereröffneten 103er in der Kastanienallee sehen. Dort herrschen auf drei Riesenleinwänden in allen Ecken grandiose Guck-Bedingungen.

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Heute Abend werden wir also noch Belgien sehen, den nicht sonderlich geheimen Geheimfavoriten. Alles an Belgien ist sympathisch: Marc Wilmots, der Trainer, das offensive 4-3-3, der Kampfgeist. Schwer zu sagen, ob das reicht, um übers Achtelfinale hinaus zu kommen. Der andere, überaus ungeheime Geheimfavorit, Chile, kocht schon mal auch nur mit Wasser.

Nach Belgiens Auftritt sind wir durch. Erwähnenswert zu Beginn sind zwei irrationale, aber funktionierende Regeln: Die erste: Wer 1-0 führt, der oft verliert. Fünf von dreizehn Spielen wurden bisher gedreht, nur achtmal siegte die zuerst führende Mannschaft auch tatsächlich.

Die zweite Regel: Trikot ganz in weiß verliert – die Regel gilt zu 100 Prozent, wenn man das deutsche Trikot durch den roten Querbalken eben nicht als völlig Weiß ansieht. Aber selbst den Spaniern brachte ein weißes Trikot Unglück.

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Spanien – Niederlande war das bisher beste, aufregendste Spiel der Gruppenphase, nicht nur wegen seines Resultats. Die objektiven Gründe für einen holländischen Sieg hatte ich ja schon in meinem Tip aufgezählt: Offensive Flügelspiel der Niederländer, verstärkt durch van Gaals antiholländischen Ballbesitzfetischismus. Mit dem war es dann gar nicht so weit her, trotz des 5-1 hatten die Holländer nur 43 Prozent Ballbesitz.

Sie spielten defensiver als gewohnt, 3-5-2, und setzten den Spielaufbau und Spaniens Abwehr unter Druck. Trotzdem hatte Spanien Chancen, erspielte sich in der zweiten Viertelstunde eine Überlegenheit, deren folgerichtiges Ergebnis die Führung war. Man kann es offen sagen: Das holländische Spiel war riskant, kam dem spanischen Konterspiel eigentlich entgegen. Es hätte gut 2-0 stehen können, der Ausgleich durch van Persie in der 44. war ein Supertor, aber auch superglücklich.

Das 3-1 hätte nicht gelten dürfen, der Anschluss zum 2-3 wäre gut möglich gewesen, das 4-1 war ein Glückstor. So gewann Holland an einem Abend, an dem ihnen alles gelang, verdient aber glücklich und viel zu hoch. Noch nie hat ein Weltmeister fünf Tore reingekriegt, eine Demütigung. Vincente del Bosque tut mir leid. Wie wird sich Spanien davon erholen?

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Das zweitbeste Spiel war das zwischen England und Italien. Schon als man den Nationalhymnen zuhörte und in die Gesichter blickte, war der Eindruck wahnsinnig: Man sah Hafenarbeiter gegen Gemüsehändler, kleine großgewordene Straßenjungs auf beiden Seiten. Diese grundsätzliche Stillosigkeit der Erscheinungen unterscheidet sich frappant von den wissenschaftlichen Mitarbeitern bei den Spaniern und den Holländern.

Ich mag beide Mannschaften nicht wirklich, respektiere aber beide und war irgendwie sehr diffus eher für England, damit Italien draußen ist. Weil England ja sowieso spätestens im Viertelfinale rausfliegt …

Als ich dann zuschaute, wanderten meine Sympathien schnell zu den Italienern. Extrem beeindruckend. So abgezockt! So souverän!! Nicht eine Minute zweifelten sie selbst am Sieg. Gegenüber dem Gegner strahlten sie vielmehr aus: „Ey, was macht ihr hier ‚rum, was wollt ihr? Nervt nicht!“

Dabei spielten die Engländer taktisch sehr modern. Johnson war toll, Gerrard sehr gut. Eine sonderbare Doppel-Raute, mit vielen Positionswechseln. Drei Dreierlinien. „Eigentlich Catenaccio“, sagte der Reporter und verwirrte mich.

Die Italiener spielten ein ziemlich klares 1-4-5 und immer sehr stilvoll. Blau ist natürlich auch ’ne bessere Jungsfarbe als Weiß.