Sunset Park :: Paul Auster

Paul Auster wird nicht müde, über New York zu schreiben - diesmal erzählt er vor vertrauter Kulisse von der jüngsten Wirtschaftskrise

Wir blicken in diese vertrauten traurigen Augen. Die darunterliegenden Ränder sind mit den Jahren etwas dunkler geworden. Wir sehen Paul Auster in seinem Schreibzimmer in Park Slope, Brooklyn, am Zigarillo ziehen, vor der alten Schreibmaschine, daneben winzige Buchstaben auf einem gelben Notizblock. Weit und breit kein Apple-Produkt. Auster legt sich in Gedanken eines der metaphysischen Puzzle-Spielchen zurecht, die er so liebt, und lauscht dabei seiner Musik, der „Musik des Zufalls“, wie er einen seiner Romane über das Pokern um Leben und Tod benannte.

Für Auster ist das Schicksal nichts weiter als eine Kette von Zufällen, die die Lebensgeschichten seiner Helden unentrinnbar miteinander verschränken. Und man kann gar nicht anders, als bei der Lektüre seiner schwermütigen Werke immer wieder an die reale Person Paul Auster zu denken. Denn seine Romane sind von seiner Anwesenheit durchdrungen, von seinen wiederkehrenden Motiven, wie etwa der Suche nach verschwundenen Dingen, oder der Verehrung seiner Lieblingsschriftsteller Kafka und Beckett.

Seit seinem letzten Roman, „Unsichtbar“, wendet sich Auster der jüngeren Generation zu, diesmal ist eine Vater-Sohn-Geschichte daraus geworden. Der 28-jährige Miles arbeitet in Florida als Entrümplungsarbeiter in Häusern von Menschen, die sich aus dem Staub gemacht haben, da sie die Hypotheken nicht mehr abzahlen können. Es ist seine Art, die Vergangenheit hinter sich zu lassen: Sein Stiefbruder Bobby starb bei einem Autounfall, und Miles gibt sich die Schuld dafür. Aber darüber hat er weder mit seinem Vater Morris, Chef eines exquisiten Kleinverlags, noch mit seiner distanzierten Mutter, einer einsti-gen Star-Schauspielerin, gesprochen, die nun die Hauptrolle in Becketts „Glückliche Tage“ übernehmen soll. Und schon gar nicht mit Bobbys Mutter, der zweiten Frau seines Vaters.

Ganz Auster-typisch lebt Miles bedürfnislos („weder Fernseher noch Radio noch Computer“) – und hauptsächlich von Büchern („kein Luxus, sondern Notwendigkeit“). Seit siebeneinhalb Jahren ist er von zu Hause weg, nur sein Freund Bing hält die Eltern über seine wechselnden Aufenthaltsorte auf dem Laufenden, ohne dass der Sohn davon weiß. Miles findet sein Heil in der 16-jährigen Kubanerin Pilar, die er in einem Park bemerkt. Beide lesen „Der große Gatsby“, es folgt eine Humbert-Humbert-Lolita-hafte Begegnung („Eigentlich noch ein Baby, sagte er sich“) und erneut eine verbotene Liebe, wie die inzestuöse in Austers „Unsichtbar“. Doch Miles liebt Pilar ihrer Intelligenz wegen; den Tatbestand der Verführung Minderjähriger schlägt er sich aus dem Sinn.

Auster bestimmt wieder einmal, was wir denken sollen, indem er keinen allwissenden Erzähler die Figuren durchleuchten lässt, sie vielmehr aus verschiedenen Perspektiven erhellt, sie im Wechsel miteinander und übereinander sprechen, grübeln oder Tagebuch schreiben lässt. Diente noch in „Die Brooklyn-Revue“ ein Antiquariat als Dreh- und Angelpunkt, so ist es diesmal ein von vier jungen Menschen besetztes Haus in Sunset Park, einem Neighborhood Brooklyns, dem ein ähnlicher Boom wie zuvor dem Prenzlauer Berg-haften Park Slope zu blühen scheint – wo man Auster heute oft im „Blue Ribbon“ beobachten kann, vor sich eine Platte Long-Island-Austern.

Die WG besteht neben Miles aus dem übergewichtigen und sexuell verwirrten Bing, der sich zur Künstlerin berufen fühlenden Ellen, die als Maklerin arbeiten muss, und Alice, die mit ihrer Dissertation über den 1946 gedrehten Filmklassiker „Die besten Jahre unseres Lebens“ weniger zu kämpfen hat als mit den Kompromissen ihrer Beziehung zu einem Jungschriftsteller. Miles ist der rote Faden, mit dem Auster alles verbindet. Manchmal droht er zu reißen, an manchen Stellen lassen sich die Schicksale diesmal nicht so leicht verschnüren wie in seinen Vorgängerromanen. Aber Auster hat vorgesorgt. Er bringt – neben der oft bemühten Lebensmetapher Baseball – auch ebenjenes Beckett-Stück „Glückliche Tage“ ins Spiel, über eine 50-Jährige, die in einem Erdloch unaufhörlich tiefer sinkt: Je mehr ihr Körper abstirbt, desto mehr überspielt sie das Wissen um ihr baldiges Ende. Sie ist glücklich.

Und da wäre ja noch der ebenso das Glück im Titel tragende Film „Die besten Jahre unseres Lebens“ über US-Soldaten, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren. Sie haben Männer sterben sehen und dem Tod ins Auge geblickt. Die besten Jahre ihres Lebens sind vorbei. Die guten können beginnen. Bezogen auf das Werk des einst als Vertreter der Postmoderne gefeierten Auster verhält es sich ähnlich. Man hört ihm noch immer gern zu, diesem gewandten Zeremonienmeister des Zufalls, denkt an seine dunklen Augen und ist ein wenig traurig, dass seine besten Werke schon viele Jahre zurückliegen.

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