Der grazile Riese: Zum Tod von James Gandolfini

Er war Renaissance-Mensch, eine Shakespearsche Gestalt, er verkörperte die größte und subtilste Fernsehfigur aller Zeiten. Der großartige Schauspieler James Gandolfini ist tot. Ein Nachruf von Arne Willander.

Wir „Sopranos“-Süchtigen haben nie gemerkt, dass wir beinahe nichts über James Gandolfini wussten – denn Gandolfini war in einer Weise eins mit Tony Soprano, wie es nur Larry Hagman mit J.R. Ewing war. Doch während Hagman lustvoll eine Comic-Figur skizzierte, malte Gandolfini an einem Fresko menschlicher Leidenschaften, Mängel und Abgründe, einem Renaissance-Menschen, einer Shakespearschen Gestalt.

Tony Soprano ist der mittelständische Unternehmer, der es mit „Abfallbeseitigung“ zu Reichtum gebracht hat, ein amerikanischer Patriot, der Italiener sein will wie seine Vorfahren, aber nicht Italienisch spricht, ein Macho und Choleriker mit labiler Psyche und Hang zur Sentimentalität, ein Grobian und Alpha-Tier mit Bauernschläue und Instinkt. In Shorts, Feinripp-Unterhemd und Bademantel schlurft er zerzaust zum Kühlschrank seiner Neureichen-Villa, in der sich der schlechte Geschmack seiner duldsamen Frau Carmela austobt, in bunten Seidenhemden sitzt er breitbeinig bei der Psychotherapeutin Dr. Melfi, die er umgarnt und schockiert wie ein großer Junge, launisch, charmant und zu allem fähig. Diese große Liebesgeschichte bleibt in den „Sopranos“ ohne Erfüllung, obwohl Lorraine Bracco mehr als fasziniert ist von der zärtlichen Bestie. Seine eigentliche Betätigung umkreisen sie kunstvoll und spielerisch, und die Ärztin überwirft sich mit italo-amerikanischen Freunden, um den Patienten zu verteidigen.

In einer Episode stranguliert Tony einen Verräter zu Tode und fährt dann zurück zum Hotel, wo seine Tochter wartet, weil sie ein College für sie suchen. Die Suche wird zu einer Reise der Erinnerung für Tony, eine Konfrontation mit dem ehrbaren, respektablen Amerika der Ivy League, von Bildung und Bürgerlichkeit. Wie Don Corleone am Ende des „Paten“  begreift Soprano, dass er es niemals zur Legalität bringen wird; man fürchtet ihn, respektiert ihn aber nicht. Bei Dr. Melfi erzählt er von dem fröhlichen Wanderer, der pfeifend durchs Leben geht – während seine eigene Existenz von Kampf, Mühsal und Misstrauen geprägt ist. Der Traum gebiert jene Ungeheuer, die Tony tagsüber mit Alkohol, Sprüchen und Psychopharmaka  in Schach hält.

James Gandolfini war selbst Nachkomme von Italo-Amerikanern der zweiten Generation, er wurde am 18. September 1961 in Westwood, New Jersey, geboren. Es ist dasselbe plane Richard-Ford-Land, in dem die „Sopranos“ angesiedelt sind. Gandolfini studierte an der Rutgers-Universität und kam zum Schauspiel, als er einen Freund zu Proben begleitete. Mitte der 80er-Jahre spielte er am Broadway seine erste Rolle in „Endstation Sehnsucht“; in „True Romance“ von Tony Scott machte er 1992 erstmals im Kino auf sich aufmerksam. Immerhin hatte er Nebenrollen in „Crimson Tide“ , „Schnappt Shorty!“, „Zivilprozess“, „Nacht über Manhattan“ von Sidney Lumet und „Die zwölf Geschworenen“ von William Friedkin, bevor 1999 die „Sopranos“ begannen. 2001 gab er in „Die letzte Festung“ als Gefängnisdirektor das Gegenüber von Robert Redfords heroischem General, den er zunächst bewundert und dann hasst, weil er sich abschätzig über Verwaltungssoldaten äußert. Vom Fenster aus beobachtet Gandolfini die Rebellion der Insassen, und man sieht die mühsam unterdrückte Wut des massigen Mannes, der militärische Schriften und Waffen sammelt. Die letzte Festung ist in dem schwer erträglichen Film von Rod Lurie nicht das Fort, sondern James Gandolfini, der die Kriegskunst so liebt wie Redford seine Anständigkeit.

Im letzten Jahr sah man Gandolfini in Kathryn Bigelows „Zero Dark Thirty“ als grobschlächtigen Geheimdienst-Chef, der sich eilig die Lage erklären lässt, Jessica Chastain zuhört und knapp befiehlt: „Bis Ende der Woche will ich wissen, wer da drin ist!“ Er glaubt der aufmüpfigen Chastain. Die Figuren des James Gandolfini haben stets ein Gespür, das man mit fahler Ironie „Bauchgefühl“ nennen könnte. Tony Soprano ist ein graziler Riese, der wie ein Wiesel flüchtet, als er die Polizei vorfahren sieht. Er bewältigt die dysfunktionale Familie ebenso wie die heikle zweite Familia, er übersteht die schreckliche Mutter und den fiesen Onkel, die zeternden Geliebten und Borderline-Frauen, die Schulleiter und Geheimdienstler. Wir verlassen die größte und subtilste Fernsehfigur aller Zeiten in einem Diner, in dem „Don’t Stop Believin'“ von Journey läuft.

Einmal reist Tony Soprano ins Land seiner Väter und erlebt die mediterrane Leichtigkeit, die Sonne und die Liebe, schäkert und flirtet, geht am Strand spazieren und bechert und lebt, bevor er wieder ins trübe New Jersey zum grauen Meer und den toten Fischen zurück muss. Gestern starb James Gandolfini unfassbarerweise im Alter von 51 Jahren – und es ist so wenig Zufall wie Trost, dass es in Rom geschah.

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