Alien Nation

2Hier kommt das Zweitbeste nach Gott", kündigt der „"Master of Ceremony" an, der britische DJ Kenny Everett, während die „"Ode an die Freude" aus Beethovens „"Neunter Sinfonie" in der altehrwürdigen Londoner "„Royal Festival Hall" aus der PA schallt.

Ein einzelner roter Lichtstrahl zielt auf die Bühne und formt einen leuchtenden Heiligenschein um einen dünnen, Außerirdischen mit orangen Haaren, einem grünroten Raumanzug und roten Plateaustiefeln. „Hello“, sagt der Außerirdische in seinem weichen, kultivierten Akzent zur hysterischen Menge. „I’m Ziggy Stardust, and these“ – Scheinwerfer erleuchten seine drei Mitmusiker „are the Spiders From Mars.“

Es war der 8. Juli 1972. Ziggy war in Wirklichkeit David Bowie, 25, ein mäßig erfolgreicher Singer-Songwriter aus London mit ein wenig Theatererfahrung, der sich in einen futuristischen, androgynen Messias verwandelt hatte, in den ultimativen, leuchtenden Popgott. Die Spiders waren Bassist Trevor Boulder, Schlagzeuger Woody ^Voodmansey und der explosive Leadgitarrist Mick Ronson, alle ähnlich grell gekleidet wie ihr Frontmann. Und die Show war ein Fest androgyn-überdrehter Erotik, mit glitzerndem Garagenrock und Songs von Bowies brillanter neuer Operette über seine Kunstfigur, „The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars“. Jenes Album läutete den Beginn des Glam-Zeitalters ein und besiegelte überdies Bowies andere Transformation: in einen wahren Superstar. „Ich wusste nicht, dass ein Konzept dahintersteckte“, sagt Lou Reed, der an jenem Abend in der „Royal Festival Hall“ Bowies Gast war und in dessen Set drei seiner eigenen Velvet-Underground-Klassiker sang. Auch dem britischen Glamrock begegnete Reed hier zum ersten Mal, diesem aufgedonnertandrogynen Gegengift zum Hippietum der späten Sechziger. „Es war verblüffend anzusehen, wie dieses ganze Ding auftauchte“, erinnert sich Reed. „Es gab irrsinnig viele männliche Gockel -und Frauen, die auf Glitzer standen.“ (Ein britischer Kritiker formulierte es etwas anders und beschrieb die Konzertgänger bei Bowies Ziggy-Shows in den USA Ende ’72 als „wandelnde Weihnachtsbäume“.) Die grandiose Geburt des Glam in der „Royal Festival Hall“ war seltsamerweise ein Öko-Benefizkonzert: Die Einnahmen gingen an die Organisation Friends Of The Earth und deren Kampagne zur Rettung gefährdeter Wale – eine wahrhaft komische Geste für einen so egomanischen Kult. Zu den allabendlichen Höhepunkten der Ziggy-Konzerte gehörte, dass Bowie Mick Ronsons Gitarre einen blies, während Ronson sein schrilles Solo spielte. „Ich erinnere mich vor allem daran, wie viele Paare bei unseren Shows heftigstes Petting betrieben“, merkt Bowie an. ,Alle Hemmungen schienen schon am Eingang zu fallen wie Blätter.“

Die Aufregung war ansteckend. Reed – den man zu Velvet-Zeiten immer nur ganz in Schwarz sah – ließ sich von Bo wie und dessen damaliger Frau Angie bald ein Glitteroutfit verpassen. „Wir gingen zu dritt shoppen, und Angie suchte diese ganzen tollen Schals aus und diese straßbesetzte Jacke“, sagt Reed. „Die Jacke wurde auf der Bühne ungefähr 100 Grad heiß. Ein paar Tage später war Iggy da. Mehr Spaß hätte ich mir nicht ausdenken können.“

Wie Reed gehörte auch Iggy Pop, der sich gerade noch von der Auflösung der Stooges erholte, zu Bowies Idolen. Bei einem Empfang am 16. Juli, den Bowies Manager Tony DeFnes im Londoner „Dorchester Hotel“ für amerikanische Journalisten gab, lieferten Bowie, Reed und Iggy einen Spontanauftritt, der kein Stück weniger provokativ war als die Ziggy-Shows. Bowie räkelte sich im bis zum Nabel aufgeknöpften Dress auf einem Sofa und gab viertelstündige Interviews. Reed gab bekannt, Bowie werde sein nächstes Soloalbum produzieren — den Glam-Meilenstein „Transformier“—, dann unterbrach er eines von Bowies Interviews, indem er hinüberging und David ausgiebig auf den Mund küsste. Iggy, mit silbernem Lidschatten und Marc-Bolan-T-Shirt, kündigte an, er werde aus dem Fenster springen, überlegte es sich dann aber anders. Als Mode wie als Sound war Glam bald wieder vorbei. Doch Bowie, Reed und Iggy zogen alle drei ein langes Leben aus seiner Energie und lieferten einzeln wie als Teams großartige Musik. „Ich glaube nicht“, sagt Reed, „dass damals irgendjemand die Sache als .Karriere‘ betrachtete. Man hoffte eher, dass man nicht von einer Klippe fiel.“

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