Das altklügste Mädchen der Welt

Hat der Welterfolg der bald 23-jährigen Alicia Keys ihre späte Jugend zerstört? Nein, sagt sie, weil man im New Yorker Ghetto schon mit 16 erwachsen ist

Als Alicia Keys neulich für ein paar Konzerte nach London musste, saß sie sechs Stunden lang im Flugzeug. Sechs Stunden, aus der Sicht ihres Managements muss das eine irre Menge verschenkte Zeit gewesen sein. Wir wissen nicht, ob man vielleicht bis zuletzt nach einem neuartigen Verkehrsmittel gesucht hatte, mit dem das irgendwie schneller gehen könnte, aber immerhin wissen wir, dass Alicia Keys die sechs Stunden ungestört durchgeschlafen hat. Es habe sich wie ein Kurzurlaub angefühlt, steht in ihrem Online-Tagebuch. Sie schreibt das mit einer unterschwelligen Dankbarkeit, die nahelegt, dass man sich mit ihr freuen soll über so viel Selbstausbeutung.

Dafür steht ihr Name überall in besonders großen Buchstaben, obwohl es ja nicht einmal ihr Name ist. Sie heißt Alicia Cook. Keys ist zusätzlich das dämlichste Pseudonym, das man als junge Pianistin haben kann: Alicia Tasten. Man erzählt dazu immer die Sterntaler-Geschichte, wie sie mit der Hilfe des früheren Arista-Chefs Clive Davis vor zwei Jahren (mit 20) das Soul-Pop-Album „Songs In A Minor“fertigbrachte, das über zehn Millionen verkaufte, für das sie fünf Grammys bekam und so weiter. Märchenhaft ist das nicht, weil das Geld ja nicht vom Himmel fiel.

Viele erzählten die Geschichte nur, weil sie sich um die Aussage drücken wollten – dass die besagte Platte nicht wirklich toll war und keiner auf dieser Grundlage glauben wollte, dass Alicia Keys selbst so bedeutend sein könnte wie die Preise, die man ihr verliehen hatte.

Andererseits, sie wird 23 im Januar. Die meisten mir bekannten 23-Jährigen stecken mitten in komplexen Selbstfindungsprozessen, experimentieren mit Wodka und geisteswissenschaftlichen Studienfächern, während die Ex-Studentin Alicia Keys nur in Flugzeugen schläft, ihre Platten selbst produziert, Mitinhaberin einer Entertainment-Firma ist, also Jungunternehmerin. Und an einem Donnerstagabend sitzt Alicia Keys in einem der viel zitierten deutschen Hotelzimmer, muss eigentlich gleich wieder weg und erzählt, wie sie in der Nacht zuvor geschwitzt hat, um die Thank-you-Liste für das neue Album fertigzukriegen. Ob sie Gott auch nicht vergessen habe? Natürlich nicht (da versteinert sich das wahrhaft wunderschöne Gesicht unter dem Hut kurz zu einem wahrhaft wunderschönen Steingesicht), sie sei doch dankbar. Dann erklärt sie, warum 23-jährige Mädchen aus dem „Hell’s Kitchen“-Ghetto von New York anders sind.

„Zum Beispiel war ich vor kurzem auf einer Party, und der Mann, dem der Club gehörte…ich glaube, er wollte angeben, und er kam ständig zu mir und meiner Begleitung und brachte einen neuen Drink. Jede Sekunde. Wirklich, jede Sekunde. Stell dir vor, du hast einen Champagner in der Hand, und einer kommt mit einem Apple Martini, und dann kommt er mit einem Himbeer-Irgendwas. Und ich kenne ihn nicht! Ich weiß nicht, was er wirklich in die Drinks gemischt hat! Wenn man überhöflich ist, dann trinkt man und trinkt und trinkt und – vorbei. Manche Leute tun alles, was sie tun, nur aus Egoismus, und von denen halte ich mich fern. Weit, weit fern.“

Ganz am Anfang hatte sie einmal ein Business-Dinner mit einem galanten, bestens gekleideten, mächtigen Herrn gehabt. Schon beim ersten Händedruck wusste sie, dass sie mit ihm um keinen Sack Geld der Welt zusammenarbeiten würde, denn – er war böse. Alicia Keys merkt vielleicht nicht, was es für eine privilegierte Position ist, sich Geschäftspartner immer auswählen zu können. In der Straße, aus der sie kommt, wird man allerdings schnell alt genug, um nicht mehr rein aus dem Affekt heraus zu entscheiden.

„Ich musste schon als junges Mädchen viel Verantwortung tragen, und ich hab das Trinken und das sich-Gehenlassen schon hinter mich gebracht, als ich sehr jung war. Und ich hab mich gefragt: Warum mache ich das? Es macht keinen Spaß, am nächsten Tag ist einem schlecht, man macht die dümmsten Sachen, man sieht wie ein Idiot aus, man riecht aus dem Mund. Manche finden das nicht schlimm, aber ich bin halt so. Ich hab erlebt, wie meinen Homegirls Drogen in die Drinks gemischt wurden, wenn sie nicht hinschauten, und wie sie in furchtbare Situationen kamen und um ein Haar vergewaltigt wurden. Und so bin ich vorsichtig und misstrauisch geworden, weil ich dabei war, weil ich weiß, was alles passieren kann. Ich weiß, wie böse die Bösen und wie gut die Guten sein können.“

Bei den letzten Sätzen beugt sie sich näher her, als ob sie einen ins Vertrauen darüber ziehen wolle, was auch heute noch für Schweinereien hinter ihrem Rücken passieren, wenn sie nicht aufpasst. Was für ein altkluges und gleichzeitig verkichertes Mädchen, so blitzende Augen. Kinder aus der „Hell’s Kitchen“, die es big time packen, werden wohl wie Alicia Keys.

Wenn die Frühreife mal wirklich alt ist, wird ihre Sprechstimme nur noch tiefer sein. Man kann sie auf der letzten Single „You Don’t Know My Name“ hören, wo sie mittendrin süß und unbeholfen einen Jungen am Telefon zu einem Date überredet, etwas, von dem man sich nicht mal mehr einbilden kann, dass sie es im echten Leben tut. Ihre beste Single bisher, und auch das zweite Album „The Diary Of Alicia Keys“ ist ein riesiger Fortschritt. Eine großteils unverhohlene Siebziger-Motown-Pastiche, aber der alte Zauber wirkt, und Star genug ist sie ja schon. Im „Billboard“ verglich Clive Davis seine Alicia kürzlich wieder mit Aretha Franklin, Whitney Houston und Annie Lennox. Nur so vom Event-Potenzial her.

Natürlich hätte ihr ganzer heiliger Ehrgeiz nichts genutzt, wenn die weißen Manager keinen Narren an ihr gefressen hätten. Allerdings hat sogar Missy Elliott neulich gesagt, was für eine erleuchtende Ehre es gewesen sei, bei den MTV-Awards mit der verhätschelten Britney Spears auf einer Bühne zu stehen. Hätte man nicht geglaubt. Haben die kämpfenden Minderheiten im US-Popbusiness gar kein Selbstbewusstsein mehr? Natürlich ist auch Alicia Keys eine Emporgekommene, die ihre Ghetto-Erfahrungen aus der Musik heraushält und den Individualismus als einzigen Weg nach oben propagiert. Sie lässt sich ausbeuten, weil sie eben Ideale hat, die ein kunstsinniger Bürger nie ganz verstehen wird.

„Ich kenne Leute, die zehn, 15 Jahre lang auf demselben Treppenabsatz vor demselben Gebäude im selben Block gesessen haben. Vielleicht ging es ihnen dabei schlecht, aber sie kennen nichts anderes, und sie haben nicht mal das Bedürfnis, etwas anderes zu versuchen, warum auch immer. Ich kenne auch Leute, die unter den ungünstigsten Umständen gelebt haben, und sie sind wie Raketen an die Spitze geschossen. Bedeutet das, dass ich was besonderes bin? Ich weiß nur sicher, was ich für mein Leben will, denn wenn man es nicht selbst in die Hand nimmt, wird es nie gemacht, und man wird auf ewig von allen nur ausgenutzt“

Kurz darauf sitzt Alicia Keys im Taxi zum Flughafen. Sie geht schlafen.

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