Der Traum ist aus

In ihrem literarischen Sachbuch „Echtleben“ rechnet Bestseller-Autorin Katja Kullmann mit den Vorstellungen vom lässigen und hippen Arbeitsleben der digitalen Boheme ab.

Es begann in den späten Neunzigern: An bonbonbunten iMacs träumten immer mehr junge Menschen von einer Existenz als gut vernetzte Kreative. Webdesigner, Journalisten und Grafiker wollten nicht mehr von neun bis fünf in einem Büro eingesperrt sein, sondern Job und Leben verbinden. Millionen von ihnen ist das inzwischen gelungen – doch das erhoffte Glück blieb aus.

In ihrem literarischen Sachbuch „Echtleben“ (17,95 Euro, Eichborn)beschreibt die Journalistin und Politologin Katja Kullmann eine von Bindungslosigkeit und Statusangst getriebene Gesellschaft. Kreativität, Flexibilität und Eigenverantwortung sind längst nicht mehr nur charakteristisch für das Leben von Künstlern und Kreativen, sondern eine entscheidende gesellschaftliche Forderung.

Den schönen Traum vom lässigen Arbeitsleben der digitalen Boheme spült die 40-jährige Autorin deshalb als Erstes den Abfluss hinunter: „Inzwischen sind die Verheißungen des, vielfältigen Lebens‘ für viele in ein barsches Funktionierenmüssen gemündet, und den meisten entfährt nur mehr ein böses Keckern, wenn sie das Wort Selbstverwirklichung irgendwo hören oder lesen.“

Was „Echtleben“ von anderen Büchern zum Thema unterscheidet, ist die sympathische Schonungslosigkeit, mit der Katja Kullmann ihr eigenes Leben als Fallbeispiel seziert: Mit „Generation Ally“ hat die Hamburgerin 2002 einen veritablen Bestseller geschrieben. Doch die freie Mitarbeit bei Printmedien, von der sie anschließend lebt, lässt ihre Ersparnisse schrumpfen. Der von grünen Bobos gepriesene Postmaterialismus – eins von vielen kulturellen Themen, die „Echtleben“ streift – bringt die Autorin genauso wenig weiter wie ihre klammheimliche Sehnsucht nach dem alten westdeutschen Sozialstaat. Sie ist ein sparsames Mädchen, sammelt alte Northern-Soul-Platten und shoppt aus Leidenschaft in staubigen Secondhandklamottenläden – doch 2008 ist es unausweichlich: Katja Kullmann stellt einen Hartz-IV-Antrag und bricht vor der Sachbearbeiterin in Tränen aus. Niemand außer ihrer besten Freundin darf davon erfahren. Die gefühlte „Schande“ eines Bürgerkinds. Tagelang ernährt sie sich von Toastbrot-Variationen, den Gin-Tonic am Wochenende gönnt sie sich aus Selbstachtung. Als dann schließlich die gewünschte Festanstellung gefunden ist, zeigt sich, dass auch die Angestelltenwelt längst nicht mehr so komfortabel ist wie sie mal war.

„Echtleben“ zeigt den Kontext einer mit Freiheits- und Pop-Metaphern aufgeladenen radikalisierten Wirtschaft. Katja Kullmann ist nur eine von Millionen „Post-Angestellten“ die man in die Kälte des freien Markts getrieben hat. Die übertriebene Abstiegshysterie des Bürgertums geht ihr deshalb ebenso auf den Geist wie die konservative Haltung der Manufactum-Kunden und das neue Interesse an Bachkantaten.

„Echtleben“ liefert auf 256 Seiten einen ebenso klugen wie eigenwilligen Faktencheck des neuen projektbasierten Kapitalismus und seiner Kulturen. Ohne die Figur der zickig-kapriziösen Katja Kullmann, die ständig alles hinterfragt und ironisiert, wäre das jedoch nur die Hälfte wert. Wir wollen uns die Autorin wie eine moderne Holly Golightly vorstellen, die sich weniger für die Juwelen bei Tiffany’s interessiert und mehr für die Haltungen und Werte unserer Zeit. Jürgen ziemer

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