Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Fade-out im Mittelalterrestaurant

Warum Flex der Biegsame nicht mit Jennifer Lopez im Luziden Lurch essen gehen wird, Katy Perry aber ohne „Hey!“ auskommt, weiß einzig unser Autor


Folge 63

Man kann mit einem freien Tag ja allerhand anstellen. Ein Notizbuch mit den schönsten Namen deutscher Mittelaltermusiker anlegen zum Beispiel. Da kommt eine Menge sinnstiftendes Material zusammen. Mittelaltermusiker heißen nämlich so toll, dass man beinahe geneigt ist, selbst ein Dasein als Mittelaltermusiker zu führen: Der Sänger von Saltatio Mortis etwa heißt Alea der Bescheidene. An Bass, Marktsackpfeife und Schalmei wirkte bei derselben Gruppe lange ein Mensch, der sich Die Fackel nannte, aber Die Fackel ist bereits 2008 erloschen bzw. ausgestiegen. Ob er anderweitig noch fackelt bzw. marktsackpfeift, ist nicht tradiert. Andere wohltönende Künstlernamen von Mittelaltermusikanten lauten Die Lutter, Ardor vom Venushügel, Luzi das L., Dr. Pymonte, der heilige St. Brandanarius oder Flex der Biegsame. Wenn ich all diese Namen so vor mir sehe, weiß ich gar nicht, warum man sich überhaupt noch mit anderer Musik als mit deutschsprachigem Mittelalterrock beschäftigt.

Aber man kann auch andere Dinge tun, wenn nichts zu tun ist: Mainstream-Radio hören zum Beispiel. Ich habe das gestern mal gemacht. Den ganzen Tag habe ich nur aktuelle Radiorotationen durchgehört: Katy Perry, OneRepublic, Bastille, David Guetta, Marlon Roudette usw. – alles Menschen, die sich mal einen vernünftigen Mittelalternamen zulegen sollten, aber das nur am Rande. Mir ist beim eintägigen ausschließlichen Hören von Mehrheitsmusik dreierlei aufgefallen. Erstens: Sie klingt im Großen und Ganzen eigentlich wie immer. Zweitens: Die Zahl der Songs, in denen ständig unmotiviert „Hey!“ gebrüllt wird, geht langsam zurück, die Dschinghiskhanisierung der Popmusik scheint besiegt. Am wichtigsten, weil am bedauerlichsten erscheint mir aber die dritte Erkenntnis:  Songs werden nicht mehr ausgeblendet. Sicher, von den hochnotkomödiantischen Radiomoderatoren schon. Aber das schöne Stilmittel des Fadeouts, also das von Tontechnikerhand herbeigeführte Pegelsenken bis zur beinahe totalen Stille, kommt bei modernen Pop-Produktionen eigentlich gar nicht mehr zum Einsatz. Alle Stücke haben ein einigermaßen vernünftiges Ende.

Ich finde das sehr schade, bin ich doch ein großer Fadeout-Fan. Viele Menschen reden schlecht über Fadeouts, weil sie der irrigen Meinung anhängen, ein Fadeout bedeute, dass den jeweiligen Musikern und Produzenten kein richtiges Ende eingefallen wäre. Das ist Unfug! Ein Fadeout ist vielleicht sogar das perfekte Ende für einen Popsong, weil es suggeriert, dass das schöne Lied irgendwo, an einem besseren Ort, hinter den Spiegeln, anderswo, in der Parallelwelt-Disco, hinter den sieben Bergen o.Ä.. ewig weitergeht. Zu den schönsten Fadeouts zählen sicher jene der Beach Boys – da wurde fast immer ausgefadet. Ein anderes Lieblings-Fadeout ist das von Bob Dylans „Knockin’ On Heaven’s Door“: Kaum ist alles gesagt, wird – Zack! – rüde der Regler runtergedreht, noch bevor der Gospel-Chor so richtig ins Gospeln kommen kann.

Wenn eines Tages die berühmte Fee kommt und nach meinen Wünschen fragt, werde ich einen sicherlich verplempern, indem ich mir wünsche, mal von allen berühmten ausgefadeten Songs das tatsächlich im Studio aufgenommene Ende zu hören. Was da wohl noch alles passiert ist? Ich bin mir sicher, dass sich einige Fadeouts nur daraus erklären, dass sich irgendjemand verspielt hat, lautstark in die Bassdrum gefallen ist oder von einer Hustenattacke zum Aufgeben gezwungen wurde.

Das erste Mischpult-generierte Fadeout wird der 1930 entstandenen Aufnahme „Beyond The Blue Horizon“ des amerikanischen Bandleaders George Olsen zugeschrieben. Olsen betrieb nach Ende seiner Musikerkarriere ein Restaurant in Paramus, wo er angeblich zur Beschallung ausschließlich seine eigenen Hitparadenerfolge laufen ließ. Zu den vielen Musikern, die Restaurants besitzen, zählen ansonsten unter anderem Jennifer Lopez, Alice Cooper, Sammy Hagar, Flavor Flav, Valerie Simpson und Jay-Z. Ich werde diese Restaurants für das nächste Pop-Tagebuch testen und darüber berichten. Ob es auch Mittelalterrock-Restaurants gibt? Zum Luziden Lurch? Beim nächsten Mal erfahren Sie’s.

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