Johnny Cash, Jamaika und die Frau, die ihre drei Ehemänner ermordete
Auf Jamaika galt die Plantagenbesitzerin Annie Palmer als die „Weiße Hexe“, die Anfang des 19. Jahrhunderts nacheinander drei Ehemänner umbrachte. Johnny Cash liebte den Mythos, schrieb ein Lied über Palmer – und zog in eine Villa gleich nebenan.

Freude und Entsetzen, Leben und Tod liegen in der Kunst oft dicht beieinander, und wenige konnten so gut darüber singen wie Johnny Cash. „At Rose Hall Plantation where the ocean breezes blow / Lived a girl named Annie Palmer, the mistress of the place“, sang er. Man meint die Ozeanbrise auf der eigenen Haut zu spüren. Aber dann: „And the slaves all lived in fear to see a frown on Annie’s face“. Ein Stirnrunzeln reichte, und die Menschen um Annie herum bekamen Angst. Denn sie besaß Sklaven, und die waren ihrer Willkür ausgeliefert. Den Countrysong „The Ballad of Annie Palmer“ brachte Cash 1973 auf seinem Album „Any Old Wind That Blows“ heraus.
Einer Legende zufolge soll der Geist von Annie Palmer noch immer sehr aktiv sein. Auf dem Gelände der Rose Hall Plantation nahe Montego Bay an der jamaikanischen Küste plage ihr Geist die Leute. Geboren irgendwann Ende des 18. Jahrhunderts auf Haiti als Tochter einer englischen Mutter und eines irischen Vaters, wurde sie nach deren Tod durch Gelbfieber von einer Nanny großgezogen, die sie mit der Voodoo-Zauberkunst vertraut machte. Auf Jamaika heiratete sie, gerade volljährig geworden, den Besitzer der Rose Hall Plantation, John Palmer.
„Where’s your husband Annie where’s number two and three / Are they sleeping beneath the palms beside the Caribbean Sea / At night I hear you ridin‘ and I hear your lovers call / And I still can feel your presence round the great house at Rose Hall.“
Johnny Cash – „The Ballad of Annie Palmer“:
Die 1,52 Meter große Hausherrin soll nicht nur Palmer, sondern auch zwei weitere Ehemänner getötet haben, je nach Erzählung vergiftet, erwürgt oder erstochen. Dazu Plantagensklaven, für die sie im Keller ein eigenes Folterstudio eingerichtet hatte. Der Blick aus ihrem Schlafzimmer ging in den Garten, direkt auf den Prügelpfosten, wo die Leibeigenen ausgepeitscht wurden. Einer ihrer Liebhaber, der Sklave Takoo, soll sie dann, genug ist genug, selbst ermordet haben.
Heute ist das renovierte Rose Hall Great House eine Touristenattraktion. Eine zweistöckige Villa mit sympathisch altem Holzmief, meterweit knarzenden Dielen und einer Retro-Einrichtung, die, wenn schon nicht durchgängig Original aus dem 18. Jahrhundert, doch mit ausreichend aristokratischen Plantagenflair gesegnet ist, mit Wollriemen-Holzdoppelbetten, zerbrechlicher Vintagekeramik und einem Blick auf den karibischen Ozean.
Well, if you should ever go to see the great house at Rose Hall / There’s expensive chairs and china and great paintings on the wall / They’ll show you Annie’s sitting room and the whipping post outside / But they won’t let you see the room where Annie’s husbands died“
Die Kinder auf dem Ölporträt gab es nicht. Das waren Puppen
Annie Palmers Grab befindet sich im Garten des Anwesens. Im Speisezimmer hängt das einzige Porträt von ihr, und es zeigt sie in Gesellschaft vieler blonder Kinder. Die Jungen und Mädchen schauen in verschiedene Richtungen, aber Palmer selbst wurde mit „verfolgenden Augen“ („Mona-Lisa-Effekt“) gemalt. Wohin man auch geht, der Blick der Hausdame folgt einem. Die toten Augen der Kinder wiederum, erklärt die Museumsführerin, seien ein Verweis auf die ungewollte Kinderlosigkeit Palmers gewesen. Die Kinder auf dem Ölporträt gab es nicht. Das waren Puppen.




Recherchen aus dem 20. Jahrhundert haben ergeben, dass die „Legende der Weißen Hexe“ ziemlicher Kokolores ist. Tatsächlich existierte eine Frau namens Annie Palmer in der Montego Bay, doch sie hatte keinerlei Verbindung zu Rose Hall und zeigte keine grausamen oder ausschweifenden Verhaltensweisen. Möglich ist, dass die Figur der weißen Hexe auf den 1929 veröffentlichten Roman „The White Witch of Rosehall“ von Herbert G. de Lisser basiert.
Aus John Fords „The Man Who Shot Liberty Valance“ (1962) stammt der populär gewordene Spruch eines Journalisten: „When the legend becomes fact, print the legend“. Daran hat sich auch Johnny Cash gehalten, der in den 1970er-Jahren in der Rose Hall ein Konzert gab. Er glaubte an die Legende der Annie Palmer.
Zur Küste fuhr Cash mit seinem Golfcart, und die Leute auf der Straße riefen ihm zu
Überhaupt hat ihn die Insel verzaubert. Johnny und seine Ehefrau June Carter Cash entdeckten ihre Liebe zu Jamaika nach einer Einladung des Regisseurs Sydney Pollack, der auf der Insel eine Villa besaß. Später kauften sie, nur wenige Fahrminuten von Rose Hall entfernt, das Cinnamon Hill Great House, eine Villa, die einst der Dichterin Elizabeth Barret Browning gehörte. Nach dem Sklavenaufstand 1831 brannte es bis aufs Gemäuer nieder. Das heutige Cinnamon Hill Great House musste neu errichtet werden. Cash kaufte das Gelände dem Geschäftsmann John Rollins ab, dem auch die Rose Hall gehörte, in der Annie Palmer spukt.
Im Cinnamon Hill Great House verbrachten die Eheleute Cash, die 2003 im Abstand von vier Monaten verstarben, viele Wochen pro Jahr. Das Anwesen, das sie bis in die 1990er-Jahren bewohnten, ist zu einem Museum geworden. Zu einer Pilgerstätte für Fans aus aller Welt, aber auch für Country-unverdächtige Jamaikaner, die erfahren wollen, wie einer der größten amerikanischen Sänger aller Zeiten auf ihrer Insel seine Tage verbrachte. Zur Küste fuhr Cash mit seinem Golfcart, und die Leute auf der Straße riefen ihm zu: „Respects, Mr. Cash, Respects.“ Das galt noch mehr, als er nach einem Raubüberfall bei ihm Zuhause dennoch nicht beschloss, Jamaika den Rücken zu kehren. Dazu unten mehr.
Die Rocky Road erinnerte ihn an seine Straßen in Amerika
Das Cinnamon Hill House liegt an einer künstlichen Lichtung, die in den Wald geschlagen wurde, und ist nur über einen rumpeligen Feldweg erreichbar. Cash wollte nicht, dass er eingeebnet wird. Die Rocky Road erinnerte ihn an seine Straßen in Amerika.
In sehr vielen Räumen der zweistöckigen Villa stehen Betten. Aber Johnny Cash hatte auch viele Kinder. Er war zweimal verheiratet (seine erste Ehe, mit Vivian Liberto, hielt immerhin zwölf Jahre) und zeugte vier Töchter und einen Sohn. Auf der Nachtvitrine im elterlichen Schlafzimmer liegen zwei Cowboyhüte. Unbeschützt. Man möchte sie aufsetzen, wenigstens einmal. Aber das ist leider nicht erlaubt (und natürlich auch richtig so).
Johnny Cash war Songwriter und Poet – und er liebte Bücher. Seine Tochter Rosanne beschwerte sich oft, dass er ständig nur lese. Das lässt sich im Cinnamon Hill Great House gut besichtigen. Jeder Wohnraum hat einen großen Bücherschrank. Die oft eigenwillig bis eklektizistisch anmutende Anordnung der Bücher wirkt etwas bemüht, fast wie von einem Innendesigner geordnet, der den Besuchern die breit gefächerten Interessen des Hausherrn verkaufen will.
Die Bücher sehen glaubhaft verlebt aus
Aber Cashs Interessen sind dokumentiert. Und die Bücher sehen glaubhaft verlebt aus. Hier steht die Bibel neben Thomas Pynchons Historica-Philosophie „Mason & Dixon“, das Nachschlagewerk „Birds of Jamaica“ neben Tolstois „Krieg und Frieden“ und Michael J. Birds „The Town That Died“, einer Chronik der Halifax-Explosion von 1917, als ein französischer Munitionsfrachter mit einem norwegischen Transportschiff kollidierte, und die bis heute in Lexika als „weltweit größte unfallbedingte von Menschen verursachte Explosion“ geführt wird.
An einem Konzertflügel vorbei geht es zur Treppe in den ersten Stock. An der Wand neben den Stufen ist über mehrere Meter die Haut eines Krokodils gespannt. Es heißt, Cash habe bei der Erlegung als auch Häutung des Reptils seine Hände im Spiel gehabt. Das Krokodil stamme aus dem 1973er-Film „Leben und sterben lassen“, Roger Moore alias James Bond flüchtete darin per Sprung über mehrere Krokodilrücken aus einem gefährlichen Fluß. Vom oberen Stockwerk aus lässt sich jedenfalls der Swimmingpool betrachten, den die Carter-Cashs nie ganz fertigstellten.
Dem elfjährigen John Carter Cash hielten sie eine Pistole an die Schläfe
Johnny Cash sagte, er habe im Cinnamon Hill House mit Geistern gelebt. Eine echte Bedrohung waren die drei Kleinkriminellen, die 1982 bei ihm einbrachen. Dem elfjährigen John Carter Cash hielten sie eine Pistole an die Schläfe. Johnny erkannte ihre verzweifelte Situation. Das waren keine Profis, sondern Drogenabhängige. Er redete auf sie ein. Sie schlossen die Cashs und ihre Haushaltshilfen im Keller ein und flüchteten mit wenig Geld.



Die jamaikanische Regierung war in Sorge, der öffentlichkeitswirksame Einbruch könne Cash von der Insel vertreiben, was wiederum dem Tourismus schaden könnte – und entsandte Polizisten zur Absicherung des Areals. Cash ließ sie durch private Sicherheitsleute ersetzen. Die später gefassten Diebe wurden hingerichtet. Cash blieb. Und die Menschen riefen ihm ihre „Respects“ zu.
Wie Hunde erschossen
Johnny Cash hatte Mitleid mit den Räubern, die wegen des Überfalls auf sein Haus getötet wurden. Er war der Great American Outlaw, und auch er war ein Süchtiger. Er schrieb in seinen Memoiren: „Was empfinde ich dabei? Wie reagiere ich emotional auf die Tatsache (oder zumindest die eindeutige Möglichkeit), dass die verzweifelten Junkie-Jungen, die meine Familie bedroht und traumatisiert haben und uns alle leicht hätten töten können (vielleicht ohne jemals eine solche Absicht zu hegen), für ihre Tat hingerichtet wurden – oder ermordet oder wie Hunde erschossen wurden, wie auch immer man es nennen will? Ich habe keine Antworten mehr. Meine einzige Gewissheit ist, dass ich um verzweifelte junge Männer trauere und um die Gesellschaften, die so viele von ihnen hervorbringen und unter ihnen leiden, und ich hatte das Gefühl, diese Jungen zu kennen. Wir waren uns ähnlich, sie und ich: Ich wusste, wie sie dachten, ich wusste, was sie brauchten. Sie waren wie ich.“ Zu Cashs Beerdigung im September 2003 schickte der jamaikanische Premierminister einen Delegierten nach Henderson, Tennessee.
Dabei besaß das Cinnamon Hill Great House einen Saferoom. Und den gibt es noch immer, gleich neben dem linken Seiteneingang. Johnny Cash ließ ihn errichten, weil er von den vielen Erdbeben gehört hatte, die Jamaika durchrütteln. Ob er darin auch Schutz vor Annie Palmer erhoffte, ist nicht bekannt.


Die Besichtigung von Rose Hill und dem Cinnamon Hill Great House wurde vom Jamaica Tourist Board (JTB) unterstützt, die Unterkunft in den Resorts „Sandals Dunn’s Rivers“ in Ocho Rios und dem „Beaches Negril“ in Negril bereitgestellt.