Legends & Newcomer

Welche afroamerikanischen Musikmoden und Musiker haben in den letzten fünfzig Jahren bis heute auf den weißen Pop abgefärbt? Vorliegender Sampler gibt keine umfassende Antwort (die im übrigen einige Platteregale füllen würde), aber ein paar Beispiele für die Vielfalt einer sich immer wieder selbst erneuernden schwarzen Popwelt. Vom Blues eines Jimmy Reed bis zu Johnny Otis' Proto-Funk, vom Gospel der Staple Singers bis zur Northern-Soul-Hymne von Betty Everett, von Curtis Mayfields Sozialkritik bis zu dem seinen Genre-Namen noch wörtlich nehmenden Rhythm'n'Blues eines Donnie, Anthony David oder Rahsaan Patterson.

1) Johnny Otis: Willie And The Hand Jive (J. Otis) Capitol Records 2:40

Otis gilt Mitte der fünfziger Jahre bereits als Grand Seigneur des Westküsten-Rhythm’n’Blues. Hatte sich der kalifornische Halbgrieche doch durch die Produktion von Big Mama Thorntons „„Hound Dog“ und als Steigbügelhalter zukünftiger Stars wie Little Esther aka Esther Phillips oder Johnny Guitar Watson einen Namen gemacht. Doch dann landete der Drummer, Pianist und Orchesterleiter auch ein gutes Dutzend eigene Hits. Sein 1957er „Willie And The Hand Jive“ etwa gab die Blaupause für den gleichnamigen Tanz aus einer rhythmischen Folge von Handdrehungen und Abklatschbewegungen. Später coverten unter anderem The Grateful Dead und Eric Clapton den Song.

2) Jimmy Reed: Ain’t That Loving You Baby (J. Reed) Vee-Jay Records 2:12

Einen Jimmy Reed Song erkennt man sofort: Sein zurückgelehnter, maulfauler Singsang, die stechende Harmonika und das hypnotisch insistierende Gitarrenspiel sollten in den fünfziger und sechziger Jahren stilprägend wirken – und besonders junge britische Bluesrockbands infizieren. Welche Rolle spielt es da, dass der 1925 in Mississippi geborene Gitarrist und Sänger kaum Noten lesen konnte? Dass er oft seine Frau zum Einsagen der Texte brauchte? „„Baby It’s You“ hieß die erste Single des nebenbei als Fleischpacker und in lokalen Stahlfabriken jobbenden Musikers. Das geradezu telepathische Zusammenspiel mit seinem einstigen Gitarrenlehrer und Kollegen Eddie Taylor sollte über das nächste Jahrzehnt eine ganze Hitserie prägen, von „„You’ve Got Me Dizzy“ bis „Shame, Shame, Shame“.

3) The Staple Singers: This May Be The Last Time (traditional) Vee-Jay Records 2:04

Die Familienband um „Roebuck „Pops“ Staples, seinen Sohn Pervis und die Töchter Mavis, Cleo und Yvonne stand 1951 erstmals auf der Bühne und hatte vier Jahre später auf Vee-Jay ihren ersten Hit: „Uncloudy Day“. Der erdige, Soul-getränkte Gospelgesang von Mavis Staples und Pops‘ Delta-Blues-Gitarre sollte auch die Folgesingle „This May Be The Last Time“ prägen, einen Song, der die Rolling Stones zu ihrem Hit „The Last Time“ inspirierte. „„Die Stones“, sollte Mavis Staples später kommentieren, „taten dasselbe, was zu der Zeit alle betrieben: man nehme einen Gospelsong, ersetze ‚Jesus‘ durch ‚baby‘ und schon hast du eine komplett neue Bedeutung“. Allerdings war „This May Be The Last Time“ selbst eine Adaption aus dem Folk-Kanon. Ende der Sechziger erweiterten die Staple Singers ihr Repertoire in Richtung Protest-Soul und landeten mit „I’ll Take You There“ und „Respect Yourself“ ihre größten Hits.

4) Betty Everett: It’s Getting Mighty Crowded (Van McCoy) Vee-Jay Records 2:13

Am bekanntesten ist die Chicagoer Soulsängerin durch einen Song geworden, den sie erst einmal als „zu „kindisch“ erachtet hatte: „„The Shoop Shoop Song“. Tatsächlich konnte Everett ihre eigentlichen Stärken besser auf anderen Hits der sechziger Jahre, wie etwa dem später von Linda Ronstadt gecoverten „You’re No Good“ oder ihren Duetten mit Jerry Butler ausleben. Ihr Meisterstück aber bleibt: „It’s Getting Mighty Crowded“. Eine Nummer, die der junge Van McCoy (lange vor „The Hustle“) geschrieben hat, und deren Bläser, Streicher und Backgroundchöre Everetts Gospelgesang raffiniert anschieben. In Amerika machte der Song in den Charts nicht viel her. Um so mehr wuchs er zu einem der Northern-Soul-Favoriten der Mod-Bewegung in England heran. Kein Allnighter ohne „It’s Getting Mighty Crowded“ und seinen Liebesschmerz: „There ain’t enough room for three / in dreams that were made for you and me…“

5) Bobby Womack: Daylight (B. Womack, H.Payne) United American 3:27

Als einer der Gründer der Valentinos verdingte sich Bobby Womack nach ein paar erfolglosen Solo-Singles in den sechziger Jahren vor allem als Session-Gitarrist und Songwriter für Wilson Pickett. 1969 unterschrieb er als Solo-Künstler bei Minit Records, wirkte zwei Jahre später bei Sly Stones „„There’s A Riot Going On“ mit und ließ all diese Einflüsse in Werke wie „Communication“ und „„Understanding“ einfließen. 1976 landete er mit der von einem prägnanten Basslauf getriebenen Midtempo-Hymne „„Daylight“ einen weiteren Klassiker. Seit seinem Comeback Anfang der achtziger Jahre und Alben wie „„The Poet I & II“ gilt Womack als Vorbild für erdigere Spielarten des Rhythm’n’Blues, wie sie heute etwa Anthony Hamilton oder D’Angelo pflegen.

6) Joe Tex: You’re Gonna Thank Me Woman (Tex) Dial/Atlantic 2:03

Joe Tex hat dem Southern Soul so viele erstklassige Songs geliefert, dass sein Name fast als Synonym für das Genre steht. Im typischen Prediger-Stil spielte er ab Mitte der Sechziger eine Reihe von Klassikern wie „„The Love You Save May Be Your Own“ oder „Hold On To What You’ve Got“ ein. Letzterer sollte mit seiner sparsamen Begleitung die Blaupause für viele spätere Country-Soul-Hits liefern. Sein Rezept für einen Crossover-Hit beschrieb der texanische Sänger einmal so: „„Ich habe immer zur Hälfte Soulmusiker, zur anderen Hälfte Countrymusiker benutzt“. Diese Formel hat einige der besten Alben von Joe Tex geprägt, wie auch das 1968 auf Atlantic veröffentlichte „„Live And Lively“. Letzteres enthält auch den in Northern-Soul-Kreisen populären Proto-Rap „„You’re Gonna Thank Me Woman“.

7) Curtis Mayfield: Love To The People (C.Mayfield) Curtom 4:04

Der in Chicago geborene Songwriter und Sänger der Impressions schrieb zwischen 1961 und 1971 eine Reihe von Klassikern wie „„Gipsy Woman“, „„People Get Ready“, „„We’re A Winner“ oder „„Choice Of Colours“: Songs also, deren Inhalte von zarten Liebeserklärungen bis zu politischen Predigten im Sinne der Bürgerrechtsbewegung reichten. 1970 eröffnete Mayfield seine Solokarriere mit der sozialkritischen Funk-Hymne „If There’s A Hell Below We’re All Going To Go“. Auf seinem 1975er-Album „„There’s No Place Like America“ perfektionierte Curtis Mayfield seine Verbindung von Nächstenliebe, Politik und Soul: nachzuhören etwa beim typisch federnden Leichtgewichtsfunk „„Love To The People“.

8) Anthony David: Yes (David/Jefferson) Bug Music, Dome Rec. 4:14

Anthony David hat auf seinem 2004er-Album „„3 Chords And The Truth“ auf alle Mode-Schnörkel verzichtet. Statt dessen trägt der von India Arie protegierte Sänger seine Songs mit sparsamer, gelegentlich sogar akustischer Begleitung vor: Klassisches Soul-Song writing in der Tradition von Bill Withers. David kann sich dabei ganz auf das Charisma seiner durch und durch persönlichen Kompositionen verlassen. In fast beiläufigem Unterhaltungston intoniert er da bittersüße Liebeslieder, rechnet in „„Krooked Kop“ mit der rassistischen Polizei seiner Heimatstadt Atlanta ab und intoniert mit dem jazzigen „„Yes“ eine der lebensbejahendsten Hymnen des zeitgenössischen Rhythm’n’Blues.

9) Donnie: Unpatient People (Donnie Johnson) The Colored Section, Dome Records 3:49

Motown hatte den Sänger aus Atlanta und Cousin Marvin Gayes ursprünglich unter Vertrag genommen. Doch dann wusste niemand so recht dessen Musik zu vermarkten. Weshalb Donnie neben anderen eigenwilligen Sängerkollegen auf dem englischen Dome-Label landete. „The Daily News“ heißt sein zweites Solo-Album: Mit warmer Instrumentierung, mitreißendem Gospel-Funk und der Bezugnahme auf den nicht immer glamourösen Alltag seiner Hörer erinnern Songs wie „„Suicide“, „„Classifieds“ oder „„Unpatient People“ daran, was Soul einmal bedeutet hat – und immer noch bedeuten kann.

10) Rahsaan Patterson: Higher Love(R. Patterson, T. Bailey Jr.) Cisum Naashar Publ./Oh So Twizzled Music, Dome Rec. 4:00

Aufgewachsen mit dem Kirchenchor in der Bronx, feierte Patterson Anfang der neunziger Jahre erste Erfolge als Songwriter – mit Top-Ten-Hits u. a. für Brandy und Tevin Campbell. Sein eigenes Debüt auf MCA dagegen fand 1997 nur bei den Kritikern Lob: Für den Mainstream-Erfolg war seine Sorte Soul eben zu sehr gegen den Strich gebürstet. Hatte auf seinen vorigen Alben noch das Heilsversprechen des Gospel dominiert, gibt Patterson auf „„Wines And Spirits“ von 2007 auch düstereren Nuancen Raum – ausgelöst durch den Tod seines Vaters. „„Higher Love“ aber feiert mit ätherischem Soul-Gestus die Versöhnung weltlicher und geistlicher Liebe.

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