Niemals nach Hause

Es gibt Menschen, die freuen sich jedes Jahr auf den wohlverdienten Urlaub. Nach 14 Tagen sind sie dann wieder selig, endlich daheim zu sein. Zu Hause, da stimmt eben alles. Dann gibt es Seeleute, Nomaden und Musiker. Seeleute leiden oft unter Heimweh, Nomaden und Musiker fast nie, denn sie kennen keine Heimat. Stephan Eicher ist fast irritiert über den Begriff Heimweh. „Dabei hat ein Arzt im 18. Jahrhundert herausgefunden, daß das ein typisches schweizerisches Phänomen ist. Schweizer Söldner in Napoleons Heer litten nämlich kaum unter kriegsbedingten Blessuren, rannten aber reihenweise wieder heim. Sie waren krank vor Heimweh.“ Eicher lebt und arbeitet seit Jahren in Hotels. „Ich bin einfach gerne Gast.“ Einmal, Anfang der 90er Jahre, hat er versucht, mit einer eigenen Wohnung in Lugano seßhaft zu werden. „Das dauerte ein Jahr. Dann wurde meine Wohnung ausgeraubt. Die Idioten haben nur technischen Kram geklaut. Meine Steinesammlung aus Madagaskar haben sie liegengelassen. Dabei ist die viel wertvoller.“

Nach dieser unerfreulichen Erfahrung entschloß sich Stephan Eicher, lieber wieder seinen nomadischen Trieben zu folgen. Nach gründlicher logistischer Vorbereitung mit Unterstützung von zehn Organisatoren, etlichen Sponsoren und zwei Mitmusikern (Achim Meier und Manu Katche) ging er auf konzertante Weltreise: Von Zermatt über Zürich nach Bangkok, Vietnam, Laos, Kambodscha, dann Reunion, Madagaskar, Kongo, Nigeria, Mali, Senegal, Marokko bis Argentinien und Chile. Es hätte ewig so weitergehen können.

Er liebt das Flüchtige, das Weiterziehen, und die einzigen Dokumente seiner vorübergehenden Anwesenheit an den verschiedensten Orten sind seine verwischten Fotos, am liebsten von Stühlen und verlassenen Betten. „Wenn ich alle Fotos aneinanderreihe und die Belichtungszeiten addiere, dann sind das die letzten Jahre meines Lebens, komprimiert auf zwei Minuten. Ein Leben voll flüchtiger Momente.“ Das, was er nicht fotografisch festhält, notiert er im permanenten Tagebuch. In Phnom Penh etwa, da leidet er auf dem Rücksitz eines Motorradtaxis Todesängste und versucht dem Fahrer beizubringen, bitte etwas langsamer zu fahren. Der gute Mann lacht, erklärt über das Brüllen des Verkehrs in einer Melange aus Franglais die wunderbare Möglichkeit der 33 Wiedergeburten und prescht in die nächste Verkehrslücke. Im Senegal erläutert Eicher mit einem Vodaabe den Unterschied zwischen Weiß und Schwarz, Europäer und Afrikaner. „Der Weiße ist der, der zu viel denkt.“ Und was ist Psychoanalyse? Stephan erklärt, und der Vodaabe lacht. „Das haben wir auch. Wenn bei uns jemand stirbt, dann schießen wir Löcher in die Luft. Das ist gut für die Seele.“

Nach seiner vorläufigen Rückkehr wartet auf den Dauerreisenden seine künstlerische Verpflichtung. Statt weiterhin über existentielle Vergänglichkeiten zu philosophieren oder exotische Dorfgemeinschaften mit seiner vielschichtigen Musikwelt bekannt zu machen, muß Eicher ein neues Album abliefern. „Es wäre fast klischeehaft simpel gewesen, da eine Sammlung musikalischer Reise-Erfahrungen draufzupacken, eine persönliche Weltmusik.“ Statt dessen ist „1000 Vies“ still, ja introspektiv geraten. Eine Art Startrampe zu neuen, auch musikalischen Abenteuern.

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