Sufjan Stevens
„Carrie & Lowell“
Asthmatic Kitty (VÖ: 30.5.)
Das meisterliche Familienalbum als Deluxe-Version.

Es gibt zwei Arten von Künstlern: Die einen wollen ein Werk, sie streben nach Vollendung; die anderen experimentieren, sie brauchen die Veränderung. Sufjan Stevens gehört zu den Musikwandlern. Schon deshalb ist es wenig ergiebig, „Carrie & Lowell“ sein Meisterwerk zu nennen. Aber das Traueralbum ist sein persönlichstes. Nach dem polyfonen „The Age Of Adz“ (2010), das sich der komplexen Welt mutig entgegenstemmt, verarbeitet diese Platte den Tod seiner Mutter, Carrie, mit der es Stevens oft schwer hatte. Es ist zugleich eine Familienaufstellung, in der Stiefvater Lowell die Rolle eines gütigen Vermittlers einnimmt.
Das eigentlich als privat gedachte Dokument wuchs zur allgemeingültigen Reflexion über Vergänglichkeit
Der Sänger flüstert auf Stücken wie „Should Have Known Better“ oft nur, mehrere Stimmen werden zu akustischer Gitarre, sparsam eingesetztem Piano und dezenten Synthflächen übereinandergelegt. Die Wiederholung von Gesangfarben und Harmoniefolgen erzeugt ein Schweben, das den Themen Liebe und Vergebung („I forgive you, Mother, I can hear you/ And I long to be near you/ But every road leads to an end“ in „Death With Dignity“) eine spirituelle Dimension verleiht.
Während der Sänger seine spärlich eingespielten, aber tief empfundenen Lieder meisterlich zu einem gemeinsamen Gebet mit seinem Publikum auf die Bühne brachte, entwickelte „Mystery Of Love“ aus dieser Session als Teil des Scores von „Call Me By Your Name“ ein Eigenleben. Das eigentlich als privat gedachte Dokument wuchs zur allgemeingültigen Reflexion über Vergänglichkeit. Die Jubiläumsedition ergänzt nun gleich an zwei Enden: Ein Booklet fungiert als fotografisches Familienalbum, eine weitere Platte gibt als Mixtape einen Einblick, wie sich die Songs von ihrem bereits ausgefeilten Urzustand zu einer berührenden musikalischen Botschaft zusammenschlossen.
Diese Review erschien im Rolling Stone Magazin 6/25.