ROLLING STONE Places: London

Bei ROLLING STONE Places erkunden wir Orte auf die musikalische Art. In der ersten Folge nimmt uns ROLLING STONE-Autor Robert Rotifer mit nach London.

London Girl, London Boys, London Town, Cheer up London, London Is The Place For Me! In der Tat, es gibt unzählige in, an, auf und über London geschriebene Lieder. Aber wenn man schon so eine endlose Auswahl hat, wieso sie nicht durch zusätzliche geographische Kriterien verkleinern? Also begnügen wir uns hier doch nicht bloß mit Hymnen an die Metropole im Ganzen, sondern erkunden wir die Themsenstadt auf musikalische Art von Gegend zu Gegend, im Uhrzeigersinn von Süd nach West nach Norden und Osten. Schließlich lässt sich kaum ein Stadtplan so dicht mit seinen verschiedenen Vierteln gewidmeten Songs bepflastern wie der von London (Manhattan, möglicherweise). Und wer bei einem ersten Blick auf die Liste gleich „Was? Keine Baker Street?“ ruft, darf gern selbst weitermachen.

Die Clips zu den Songs findet ihr in der Karte.

 

1) The Kinks: Waterloo Sunset

Beginnen wir doch beim Offensichtlichsten. Der alte Nord-Londoner Ray Davis blickt in diesem möglicherweise größten aller London-Songs über den Fluss auf das Südufer der Themse. Terry und Julie, die beiden Geliebten im Zentrum seiner Geschichte, treffen sich dort nun schon seit 55 Jahren jeden Freitag an der Waterloo Station, wo Millionen Menschen wie Fliegen um den Eingang der Underground schwirren. Im Gegensatz zum Jahre 1967, als dieser Song geschrieben wurde, ist die South Bank dank des gastronomischen und kulturellen Angebots heute ebenso dicht von Flanierenden umschwärmt wie vom Pendlervolk auf dem Weg zurück in die Vorstadt. Der Blick von der Waterloo Bridge bei Sonnenuntergang ist allerdings immer noch einer der schönsten, die London zu bieten hat.

Rolling Stone Places London
Die Brüder Dave (2.v.l) und Ray Davies (2.v.r.) gründeten ihre Band The Kinks 1964 im Londoner Stadtteil Muswell Hill (hier im Jahr 1969).

2) Eddy Grant: Electric Avenue

„Terry and Julie pass over the river where they feel safe and sound“, wir dagegen bleiben noch ein bisschen im wilden Süden der Stadt. Die wenigsten werden diesen Elektropop-Hit mit London assoziieren. Aber die Electric Avenue gibt es tatsächlich. Sie wurde bei ihrer Eröffnung 1880 so benannt, weil sie die erste britische Markstraße mit elektrischem Straßenlicht war. 101 Jahre später war sie einer der Schauplätze der Brixton Riots, bei denen die Polizei brutal auf die in jenem Süd-Londoner Stadtteil konzentrierte, karibische Minderheit losging. Eddy Grant, der schon in den Sixties bei den Equals – der ersten großen britischen Rockband mit gemischten Hautfarben – gesungen hatte, war von den Straßenkämpfen derart schockiert, dass er bald darauf nach Barbados auswanderte. Daher das irreführenderweise dort gedrehte, in den frühen bis mittleren Achtzigern omnipräsente Video. Heutzutage ist „the dark side of town“, wie er die Electric Avenue im Song nennt, weitgehend gentrifiziert. Einen gewissen karibischen Flair versprüht Brixton aber immer noch.

3) Squeeze: Up The Junction

Diese proletarische Geschichte einer gescheiterten Beziehung in sieben Strophen borgte sich ihren Titel vom gleichnamigen Buch/Fernsehspiel/Kinofilm aus den Sechzigern, in welchem eine Tochter aus besserem Haus auf die andere Seite der Themse in den (damaligen) Working Class-Bezirk Battersea zieht, um dort ihr Glück im vermeintlich einfachen Leben zu suchen. Die Redewendung „Up The Junction“ stand im Londoner Slang der Zeit für persönliche Bredouillen, inspiriert vom für seine unzähligen Schienenstränge und dem Gewirr seiner Weichen berühmten Lokalbahnhof Clapham Junction. Im von Chris Difford und Glenn Tilbrook 1979 geschrieben Song bezieht sich dieses Gleichnis auf eine unerwünschte Schwangerschaft nach einem Techtelmechtel im örtlichen Park, gefolgt von Unglück, Trennung, Alkoholismus und Wettsucht. Eine authentische Londoner Story eben.

4) Blur: For Tomorrow

Im Uhrzeigersinn weiter nach West-London, genauer gesagt auf den Westway, jene in den Sixties gebaute Stelzenautobahn in Richtung Heathrow, die damals J.G. Ballard zu seinem Autounfall-Sex-Roman „Crash“ inspirierte. Der junge Damon Albarn dagegen porträtierte in seinem Song den Westway im Dauerstau aus der Perspektive eines im Auto festsitzenden jungen Pärchens, Jim und Susan, am Ende des 20. Jahrhunderts. Vor ihnen der Blick auf West-London, in ihren Köpfen die Hoffnung, dass es morgen besser wird. Gegen Ende des Songs beschreibt Albarn eine häusliche Szene aus dem Alltag der beiden, dabei spricht Jim den als Album-Titel verwendeten, ewiggültigen Satz: „Modern life is rubbish.“ Wenn die bloß gewusst hätten, was da noch alles kommt. Das Tempo-Limit auf dem Westway liegt heutzutage übrigens bei 30 Meilen pro Stunde. J.G. Ballard wäre davon kaum inspiriert gewesen.

5) John & Beverley Martyn: Primrose Hill

Susan, die weibliche Hälfte des Pärchens in Blurs „For Tomorrow“ schlägt in der Coda eine Spritztour auf den Primrose Hill vor, denn „it’s windy there, and the view’s so nice.“ Dieselbe Idee hatte Beverley Martin schon 1970 und formulierte sie in Gestalt dieses Songs, den sie für das gemeinsam mit ihrem Mann John veröffentlichte Album „Road to Ruin“ schrieb. Primrose Hill ist aber nicht nur ein Hügel in einem besonders hübschen Park mit einer der berühmterweise besten Aussichten der Stadt. Gelegen zwischen Camden Town, Belsize Park, Hampstead und dem noblen St. John’s Wood (wo Pop-Aristokraten wie Paul McCartney zwecks Nähe zur Abbey Road wohnten), war er auch ein beliebter Treffpunkt der Londoner Folk- und Pop-Bohéme. „I like that kind of life“, singt Beverley Martyn, und man kann es ihr nicht verdenken. Ihresgleichen könnte sich heute nie und nimmer leisten, in der Nähe des Primrose Hill zu wohnen. Aber die Aussicht ist immer noch gut.

6) Tracey Thorn: Kentish Town

Ein Lied aus Tracey Thorns Solo-Album „Love And Its Opposite“ (2010), vielleicht das obskurste meiner Liste. Passenderweise beschreibt die Ex-Everything But The Girl-Sängerin darin eine von Nord-Londons weniger glamourösen, aber zur tiefsten Seele der Stadt gehörenden Gegenden. Kentish Town war unter anderem der Ort, wo über die Jahrzehnte Rod Stewart in die Lehre ging, Bands wie The Action oder Madness zur Schule gingen, und Saint Etienne in Mario’s Café abhingen. Ganz abgesehen von den vielen legendären Gigs im Kentish Town Forum, dem ehemaligen Town & Country Club. Ein Triumph der Stadtplanung ist das Viertel allerdings eher nicht. Thorn singt dementsprechend über die verschwundenen alten Häuser in den „streets where you lived“ und „family ghosts“, die durch die an ihrer Stelle gebauten, vernachlässigten Sozialbauten spuken. London, wie es sich anfühlt, wenn man dort lebt und nicht auf Urlaub kommt.

Tracy Thorn und Benn Watt der Band Everything But The Girl am Ufer der Themse in Richmond, London.

7) Kirsty MacColl: Soho Square

Wer nach einem Song sucht, der den unzähmbaren Charakter von Soho, der seit jeher allen möglichen Sünden und Künsten gewidmeten Quadratmeile im Herzen Londons verkörpert, würde sich wohl nicht für diese romantische Gitarrenpop-Nummer mit Streichquartett entscheiden. Aber am Ende sind es oft die traurigen Geschichten, die hängenbleiben. Die 2000 in Mexiko viel zu jung tragisch verunglückte Kirsty MacColl sang in dieser melancholischen Nummer aus ihrem 1993er- Album „Titanic Days“ über eine leere Bank am Soho Square. Irgendwann, hofft sie, wird sie dort ihren Geliebten wieder treffen. Eine Textzeile daraus ist heute auf einer Plakette an der Rückenlehne einer Parkbank zu lesen, die zu MacColls Gedenken auf dem Platz errichtet wurde: „One day I’ll be waiting there / No empty bench in Soho Square.“ Es gibt Leute, die eigens nach Soho kommen, nur um dort auf Kirstys Bank zu sitzen. Sie bleibt also nicht leer.

8) The Clientele: Losing Haringey

Auf „Strange Geometry“ (2005), dem dritten Album der von vielen unterschätzten, von wenigen verehrten Londoner Band The Clientele, findet sich diese über ein lyrisches Instrumental verlesene prosaische Geschichte eines ziellosen Spaziergangs durch die Ausläufer der Nord-Londoner Vorstadt. Es ist das London der bräunlichen Kieselputzfassaden zwischen staubigen Büroblöcken aus den Sechzigerjahren, der türkischen Supermärkte und kleinen Take Away-Läden, wo’s nur Huhn zu essen gibt, kurz: Es ist das multikulturelle London, aber nicht jenes der bunten, glamourösen Art, sondern eine der endlosen Zwischen-Gegenden, aus denen in Wahrheit der Großteil der Stadt besteht, „the wide pavements undulated with cracks and litter.“ Niemand hat je einen derart wahrhaftigen Song über dieses London geschrieben. Wenn überhaupt.

9) The Faces: Debris

Die Straßen des East End, wo einst die Londoner Cockneys herkamen, gehören heute großteils den Hipsters, zumindest solange, bis irgendwo wieder irgendwo eine Abrissbirne den Weg für einen neuen Luxuswohnblock bahnt. „Debris“, geschrieben von Bassist Ronnie Lane für die dritte Faces-LP „A Nod’s As Good As a Wink… To a Blind Horse“ (1970), ist teils Erinnerung an seine Kindheit in der im Blitzkrieg zerbombten, danach großteils nicht wieder aufgebauten Urheimat des Londoner Proletariats (er wurde noch ein gutes Stück weiter östlich in Plaistow geboren). Teils ist es aber auch eine herzzerreißende Liebeserklärung an seinen Vater, der dort Sonntags auf dem Trödelmarkt nach günstigen Angeboten suchte: „I left you on the debris“, ich hab dich dort im Geröll zurück gelassen, singt Lane. Sein Song evoziert in sparsamen Worten eine seither völlig verschwundene Seite der Stadt, aber auch die aus heutiger Sicht kaum wiedererkennbare soziale Dynamik zwischen den Generationen: „Now we both know you got no money / And I wonder what you would have done / Without me hanging around.“

The Faces-Bandmitglieder Ronnie Lane, Rod Stewart, Ronnie Wood, Kenney Jones und Ian McLagan im Londoner Nachtclub „Tramp“.

10) Pulp: Mile End

Einmal noch Britpop: Als Blur 1995 auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit standen, spielten sie ihren eigenen Londoner Stadiongig im Mile End Stadium ganz am östlichsten Ende der Stadt. Ich erinnere mich daran, dass eines der beiden Musikwochenmagazine – NME oder Melody Maker – sich in seinem Review fragte, ob es seitens der Band denn sonderlich verantwortungsbewusst sei, ihre Teenager-Fans in so eine Gegend zu locken. Dabei ging es Blur natürlich genau um diesen Anti-Glamour und die damit verbundene Working Class-Credibility. Jarvis Cocker von Pulp, zugezogen aus dem auch nicht gerade schnieken Sheffield, schrieb um dieselbe Zeit diesen Song. Seine Beschreibung der Wohnsituation in den High Rise-Blöcken der Gegend verzichtet auf jede Spur von Romantik: „The lift is always full of piss / The fifth floor
landing smells of fish / Not just on Friday“, singt er und lässt von den Fliegen im Wohnzimmer bis zum Kinderschänder im öffentlichen Klo nichts aus: „How low can a human being go / Ooh, it’s a mess alright / Yes it’s Mile End.“ Der Song erschien 1996 auf dem Soundtrack zur im Junkie-Milieu von Edinburgh angesiedelten Irvin Welsh-Verfilmung „Trainspotting.“ Er erinnerte daran, dass die Viertel mit der höchsten Armutsrate des Landes nicht etwa im deindustrialisierten Norden, sondern
ausgerechnet im vermeintlich reichen London liegen, und zwar damals wie heute. Mile End wird wegen seiner relativen Nähe zu den Hipster-Hochburgen Bethnal Green und Shoreditch von Immobilienmaklern gern als „up and coming“ angepriesen, aber es bleibt immer noch „a mess“.

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