66. Eurovision Song Contest in Turin: Triumph für die Ukraine, keine Banane für den Wolf

Längst ist der Eurovision Song Contest kein Chanson-Wettbewerb mehr, sondern ein Ausstellungs- und Experimentierraum für die Musik der Gegenwart.

Es gab wenig Zweifel daran, dass die Ukraine diesen Wettbewerb gewinnen würde: Das Auftreten des Kalush Orchestra bedeutete den Sieg. Aber vier Stunden lang spielte der Eurovision Song Contest den Eurovision Song Contest: zwar mit einem verkürzten „Give Peace A Chance“ der Band Of Thousand in den Straßen von Turin, aber ohne auffällige Solidaritätsbekundungen der Künstler, ohne Erwähnung des Krieges durch die drei Moderatorinnen. Und noch das langwierige Abfragen der Bewertungen der nationalen Jurys brachte das erwartbare Ergebnis: Der Brite Sam Ryder, ein Wikinger mit einem theatralischen, bei Queen und David Bowie entlehnten Weltraumlied, reüssierte vor der Schwedin Cornelia Jacobsen mit der konfektionierten Wuchtballade „Hold Me Closer“ und dem Burlesque-Tanz-Ensemble der flamboyanten Spanierin-vulgo-Kubanerin Chanel. Erst die öffentlichen Stimmen, die 50 Prozent ausmachen, katapultierten das Kalush Orchestra aus der Ukraine mit einem nie dagewesenen Votum an die Spitze der Erhebung.

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Aber dieses Orchester, eine Art fahrende Folklore-Zirkus-Truppe, hat nahezu alle Grundsätze des ESC berücksichtigt: Das Lied ist ein flammender, sentimentaler Hymnus vor einem zackigen Electrobeat, der von dem aberwitzig schnellen Rap eines Jamiroquai-Anglerhutträgers unterbrochen wird, er enthält eine eingängige Kadenz einer Art Hirtenflöte, und ein Zwitter aus Breakdancer und Schlangenmensch kreiselt und hüpft vor den Männern in folkloristischen Westen. Freilich, eine Frau fehlt in der Gruppe. Aber die Frau ist ja jene „Stefania“ des Titels, zu der die treuherzigen Musiker zurückkehren wollen. Ein Stein, wessen Herz nicht gerührt wäre.

Das Kalush Orchestra hat Tradition und Moderne viel besser verbunden als etwa Alvan & Ahez, die der scharfzüngige Beobachter Thomas Herrmanns im Heimstudio korrekt als „bretonischen Mittelalter-Flohmarkt“ beschrieb, oder die besinnungslos fiedelnde „Cotton Eye Joe“-Polka der Moldau, ein Favorit des Publikums. Längst ist der Eurovision Song Contest kein Chanson-Wettbewerb mehr, sondern ein Ausstellungs- und Experimentierraum für die Musik der Gegenwart, von rückwärtsgewandtem Schlagerkitsch und populistischen Verirrungen angefochten.

Die maskierten norwegischen Blödler Subwoolfer mit „Give That Wolf A Banana“ blieben so erfolglos wie die Selbstbespiegler Marius Bear aus der Schweiz („Boys Do Cry“), der Belgier Jeremie Makese mit einer Michael-Jackson-Pastiche, die zarte Holländerin S10 („De Diepte“) und Sheldon Riley, ein pompöser australischer Schwan mit Gesichtsvorhang, dessen Song „Not The Same“ hinter seinem Pathos zurückblieb. Und eben auch Malik Harris, Deutschlands Beitrag zu dem Spektakel, der unbelehrbar mit T-Shirt und Akustikgitarre zwischen herumstehendem Instrumentarium auf der riesigen Bühne sein drolliges „Rockstars“ sang. Sechs Punkte vom Volk und der letzte Platz. Die Finnen The Rasmus eiferten mit dem stumpfen Hardrock von „Jezebel“ (geschrieben von Desmond „I Was Made For Lovin‘ You“ Child) und nacktem Oberkörper den Vorjahressiegern Maneskin nach und bekamen kaum eine Stimme.

Die raffiniertesten Songs erhielten immerhin von den Jurys ordentliche Punktzahlen: Die Italiener Mahmood & Blanco sangen das anspruchsvollste, zu zierliche Lied des Abends. Die Portugiesin Maro verließ sich mit dem feinen Gesang „Saudade, Saudade“ allzu sehr auf das so oft ausgerufene portugiesische Generalgefühl. Und der Aserbaidschaner Nadir Rustamli wagte mit „Fade To Black“ eine avantgardistische und auch noch nihilistische Ballade, die fast zum Stillstand kommt, aus bewährter skandinavischer Liedmanufaktur. Die Serben Konstrakta machten mit ihrem gar nicht so subtilen „In Corpore Sano“ („Musiktheater!“, rief Kommentator Peter Urban andächtig aus seiner Kabine) und einer Waschschüssel auf die Gesundheit von Künstlern aufmerksam. Die charmante Litauerin Monika Liu („mit Mireille-Mathieu-Frisur“, so Urban) sang ein hinreißendes kleines Chanson, „Sentimentai“, in der Landessprache. Und die Norwegerin Amanda Georgiadi Tenfjord intonierte den eigentlichen norwegischen Beitrag für Griechenland, das morbide Liebeslied „Die Together“ (hohe Punktzahlen von einigen südeuropäischen Ländern).

Das italienisch-libanesisch-englische Moderatorentrio war souverän, besonders die Sängerin Laura Pausini, die in Personalunion Gina Lollobrigida und Anna Magnani verkörperte. Die Demonstration italienischer Gestik trägt zur europäischen Verständigung bei.

Im deutschen Studio in Hamburg verteilen sich die Punkte wie folgt: Der aufgekratzte Thomas Hermanns bekommt zwölf Punkte, die immer launige Barbara Schöneberger zehn, die unbeholfene Michelle zwei und der wortkarg brummelnde Max Giesinger einen.

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