Enter Shikari in Köln: Hardcore, Zuckerwatten-Techno und süße Träume von der Revolution

Die britische Genre-Bastard-Band Enter Shikari ist so erfolgreich, wie nie zuvor. Bei ihrem größten Deutschlandkonzert ihrer Karriere zeigt sich, warum sie so perfekt den Zeitgeist treffen. Aber ist das hier noch ein Rockkonzert oder schon ein Rave?

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Schon klar, Köln ist nicht London und die Südbrücke auch nicht die Wembley Arena, aber dass man heute an dem einen Ort dann doch ganz unwillkürlich an den anderen denken muss, ist nun auch kein Zufall. Erst letzte Woche haben Enter Shikari recht stolz ihren Konzertmitschnitt „Wembley. London. 17th February 2024“ veröffentlicht, das bislang größte Headliner-Konzert ihrer nun schon 20 Jahre andauernden Karriere. Und heute spielen sie auf dem Südbrücken Open Air-Geländer eben das größte Headliner-Konzert, dass sie jemals in Deutschland gespielt haben. London ist nicht Köln, man kann aber zumindest festhalten, dass es gerade außerordentlich gut für die Genre-Bastard-Band aus St. Albans läuft. Nicht nur in Deutschland oder im UK, sondern auf der ganzen Welt.

Nun also ein Freitagabend in der Domstadt, das Wetter, wie es besser nicht sein könnte, 28 Grad, blauer Himmel, obligatorischer Über-Köln-lacht-sowieso-die-Sonne-Sonnenschein und am Rhein herrscht allerbeste Partystimmung. Viele junge Menschen mit sehr bunten Frisuren haben sich eingefunden, das Konzert ist ausverkauft. Mit Blackout Problems aus München und den Post-Hardcore-Veteranen La Dispute aus Michigan, haben Enter Shikari gleich zwei Vorbands im Gepäck, es herrscht also Festival-Feeling auf dem alternativ-hergemachten Gelände.

Und auch wenn die Vorbedingungen besser nicht sein könnten und man auch weiß, was diese Band in der Lage ist zu bieten, bleibt man dennoch erstaunt, was sich von den ersten synthetischen Klängen des Openers „Bloodshot“ an, die erst spät von den schneidenden Gitarren zerrissen werden, da in Köln so abspielt. Das perfekte Ineinandergreifen von elektronischen Melodien und ausstrapazierten Hardcore-Riffs, das organische Verschmelzen von 4000 Individuen zu einem großen, wilden Organismus, aber vor allem, diese perfekte Rock’n’Roll-Eskalation, die schon in den ersten Sekunden außer Kontrolle gerät. Das ist alles so groß, so vehement, so logisch, dass es doch erstaunlich ist.

Ein Enter-Shikari-Konzert ist der Moshpit

Jeder der schon einmal auf einem Enter-Shikari-Konzert war, weiß, dass es ein paar Gesetzmäßigkeiten an diesen Orten gibt, etwa diese hier: Gesetz Nummer 1. Auf einem Enter-Shikari-Konzert gibt es vor dem Mosh Pit kein Entkommen, denn ein Enter-Shikari-Konzert ist der Moshpit. Auch in Köln wird bis in die letzten Reihen gesprungen und getanzt, und Frontmann Rou Reynolds gibt nach dem Opener auch gleich die Losung für den weiteren Abend vor. Die kommenden eineinhalb Stunden brüllt er in sein Mikrofon, geht es um Energie.

Energie ist wahrscheinlich der größte, vielleicht auch der einzige gemeinsame Nenner, den dieser Abend, ja, steile These, sogar diese Band hat. Enter Shikari spielen sich durch ein Set, das auf Songs aller ihrer sieben Studioalben zurückgreift, und es ist völlig unmöglich auch nur den Versuch zu unternehmen, das zu etikettieren.

Der Abend ist eine Mischung aus klebrig-süßen Zuckerwatten-Kirmes-Techno („Mothership“), harter Rockmusik („Dreamers Hotel“), Punk („Sssnakepit“), hymnischen Liebeserklärungen („satellites* *“) und politischem Aufbruch („Arguing With Thermometers“). Reynolds schreit, singt, rappt, er tanzt, er beschwört, er hypnotisiert, er vermengt seine Songs mit Spoken-Word-Poetik und stellt immer wieder alle Gewissheiten konsequent in Frage, in dem er seine Songs teilweise bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert. In Köln bleiben die Songs allerdings im Kern bestehen, es gibt andere Konzerte, wo er sie stärker verstümmelt.

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Das ist wohl auch das Erfolgsgeheimnis der Trancecore-Veteranen, das ist es, was Enter Shikari zur Band der Stunde macht. Ihre Verweigerungshaltung auch nur in die Nähe einer Schublade zu kommen, in die man sie kategorisieren könnte, ist ein perfekter Kommentar auf den Zeitgeist, mehr noch auf eine junge Generation, die sich sämtlichen popkulturellen Etiketten längst entledigt hat. Deren Musikgeschmack ist eine ewig lange Spotify-Playlist, in der sich das Panorama aller Möglichkeiten spiegelt, völlig frei von Distinktion und Etikette. Und genau das ist Enter Shikari. Eine Band, die alles zusammenmischt, was ihr Spaß macht. Ein großer, wilder Bastard, der einfach nur eskalieren will.

Zwischenzeitlich ist man sich deshalb auch gar nicht mehr sicher, ob man sich auf einem Punkkonzert oder schon einem Rave befindet, es spielt aber auch gar keine Rolle, wenn etwa die prägnanten „Juggenauts“-Synthies eingespielt werden, liegt Endorphin in der Luft. Die Energie, die sich an diesem Abend manifestiert, ist beinahe greifbar.

Revolution und Endorphine liegen in der Luft

Dazu kommt noch der revolutionäre Gestus, der sich auch in den Lyrics der in Köln gespielten Setlist wiederfindet. Reynolds träumt und singt von einer antikapitalistischen Welt, die sich so organisiert, dass sie das Beste im Menschen hervorruft, er wolle in seiner Musik den Sweet Spot finden, sagte er einmal, zwischen Eskapismus und politischem Erwecken. Dass diese politischen Vorstellungen kindlich-naive Hippie-Träume sind, machen den Abend aber nur noch besser, denn Utopien laden Träumer ein und neben einer gut aufgelegten Band ist das Publikum in Köln jedenfalls das größte Geschenk.

Der wildeste Safe Space, den man sich nur vorstellen kann

Man muss sich die Crowd wie einen einzigen Wahnsinn vorstellen, wie eine völlig außer Kontrolle geratene Party, voller Menschen, die sich zwar nicht kennen, aber irgendwie doch alle ganz doll lieb haben. Jeder passt auf jeden auf, eine Frau nutzt einen crowdsurfenden Mann als menschliches Surfbrett. Ein Enter Shikari-Konzert, das ist Gesetz Nummer 2, ist der wildeste Safe Space, den man sich nur vorstellen kann. Und der Wahnsinn der musikalischen Genre-Kakophonie ist der Kitt zwischen Publikum und Band.

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Als die Band mit dem völlig ernstgemeinten „A Kiss For The Whole World“ die Show beenden, wird aus einem riesigen kollektiven Organismus wieder eine Vielzahl von Individuen, die bis in jede Zelle ihres Körpers euphorisiert in die Nacht hinausgehen und das Gefühl haben, die Welt ist vielleicht doch ein ganz guter Ort. Das muss diese Energie sein, die Reynolds zu Beginn der Show beschworen hat. Köln ist vielleicht nicht London, aber in Sachen Exzess können die Rheinländer doch ganz gut mithalten.