So schmale Schultern

...auf denen Anfang der neunziger Jahre die ganze Welt zu lasten schien: Hoffnungsträger der Rockmusik, Umsatzgenerator für die Industrie, Sprachrohr einer ganzen Generation. Falls Rebellion etwas mit Verweigerung zu tun haben sollte, dann ist Kurt Cobain der kompromissloseste Rebell. Er verweigerte sich sogar dem Leben. Im Mai 1994, kurze Zeit nach seinem Selbstmord, befasste sich der Rolling Stone mit den tragischen Ereignissen in Seattle, ihren Vorzeichen und Folgen.

Seattle – am 31. Mai erzählte Kurt Cobain den Klinikangestellten des Exodus Recovery Center im kalifornischen Marina del Rey, dass er vor der Tür eine Zigarette rauchen wolle. Acht Tage später wurde seine Leiche in einem kleinen Zimmer oberhalb seiner Garage gefunden. Nach seinem Selbstmord melden sich nun viele Freunde und Fans zu Wort, die meinen, es hätte deutliche Vorzeichen für Cobains Pläne gegeben. Die bittere Wahrheit ist allerdings, dass niemand, nicht einmal seine engsten Freunde, eine Möglichkeit gefunden haben, ihn davon abzuhalten.

Sobald sie herausgefunden hatte, dass Cobain aus der Klinik geflüchtet war, ließ Ehefrau Courtney Love all seine Kreditkarten sperren und engagierte Privatdetektive, die ihn ausfindig machen sollten. Cobain war allerdings nach Seattle zurückgekehrt. Sobald er zuhause war, besorgte er sich über einen Freund und ehemaligen Musikerkollegen eine Waffe. Laut Polizeibericht kaufte dieser Freund die Waffe mit Cobains Geld. Er hatte sich zwar zuerst geweigert, willigte aber ein, als Cobain ihm erzählte, vor seinem Haus würden zwielichtige Gestalten herumlungern. Im Staate Washington kann man Schusswaffen ohne Wartefrist sofort mit nach Hause nehmen.

Wendy O’Connor, Cobains Mutter, wusste, dass er die Waffe nicht zur Selbstverteidigung braucht. Am 4. April gab sie eine Vermisstenanzeige auf. „Mr. Cobain ist aus einer Einrichtung in Kalifornien geflohen und nach Seattle zurückgekehrt“, ist in den Polizeiunterlagen zu lesen. Weiter: „Er hat eine Waffe gekauft und ist selbstmordgefährdet.“ O’Connor schlug vor, Cobain in einem Haus im Denny Way zu suchen, das ein bekannter Treffpunkt für Drogensüchtige sei. Nachbarn gaben an, dass sie Cobain zu dieser Zeit in einem Park nahe seines Hauses gesehen hätten, er habe krank ausgesehen und eine dicke Winterjacke getragen. In Cobains Zweitwohnsitz in Carnation, Washington, wurden derweil Schlafsäcke gefunden, zudem ein Aschenbecher – gefüllt mit Zigarettenkippen seiner bevorzugten Marke sowie einer weiteren. Polizisten überprüften regelmäßig Cobains Erstwohnsitz, in dem sie allerdings nur Bauarbeiter vorfanden. Einem Elektriker namens Gary Smith war allerdings etwas aufgefallen. Als er am Morgen des 8. April in Cobains Haus eine Alarmanlage installierte, entdeckte er gegen 8.40 Uhr etwas Seltsames, und zwar hinter den Lamellentüren des Gästezimmers oberhalb der Garage. „Ich hielt es zunächst für eine Schaufensterpuppe“, gab Smith später zu Protokoll, „doch dann sah ich, dass Blut aus dem rechten Ohr lief. Dann bemerkte ich die Waffe, die auf seiner Brust lag und auf sein Kinn gerichtet war.“ Cobain lag auf dem Fußboden, seine rechte Hand zur festen Faust geballt. Neben seiner Leiche lagen sein Führerschein, eine Kreditkarte, ein Zigarettenetui (in dem er laut Aussage von Freunden seine Drogen aufbewahrte) und eine karierte Jägermütze. Ausgestattet mit klappbaren Ohrenwärmern und einem breitem Schirm hatte er sie immer dann getragen, wenn er auf der Straße unerkannt bleiben wollte.

Cobain war seit drei Tagen tot. Laut dem „Seattle Post-Intelligencer“ wurden in seinem Körper Heroin und Valium nachgewiesen. Die Türen am anderen Ende des Zimmers waren mit einem Stuhl verbarrikadiert worden, so dass niemand eintreten konnte. Auf den Fußbodenfliesen neben seiner Leiche lag Abfall herum, in dem ein Stift steckte, an den ein einseitiger Abschiedsbrief geklemmt worden war. Dem Anlass entsprechend in roter Tinte verfasst. Adressiert an Love, Tochter Frances Bean, Freunde und Fans, war darin von der großen Leere die Rede, die Cobain in seinem Innersten fühlte. Er erwähnte auch seinen Drogenkonsum und äußerte die Hoffnung, dass das Leben seiner 19 Monate alten Tochter besser verlaufen möge als sein eigenes.

„Seit zu vielen Jahren macht es mir weder Freude, Musik zu hören, noch sie zu schreiben oder zu spielen“, ließ Cobain wissen, „wenn wir backstage sind, das Licht ausgeht und das manische Röhren des Publikums losbricht, dann hat das auf mich eine andere Wirkung, als es auf Freddie Mercury hatte… Ich habe nach Kräften versucht, es zu mögen, und ich mag es auch. Aber das reicht nicht. Ich schätze die Tatsache, dass ich, dass wir, viele Leute berührt und unterhalten haben. Ich muss wohl einer dieser Narzissten sein, die Dinge nur dann gut finden, wenn sie mit ihnen alleine sind. Ich bin zu sensibel. Ich muss ein wenig betäubt sein, um die Begeisterung wiederzufinden, die ich als Kind hatte. Während unserer letzten drei Tourneen habe ich all die Fans und persönlichen Freunde viel mehr zu schätzen gelernt… wahrscheinlich empfinde ich zu viel für andere Leute, liebe sie zu sehr. Ich möchte aus den Tiefen meiner brennenden, ekelhaften Magengrube danken für eure Briefe und eure Anteilnahme während der letzten Jahre. Ich bin ein viel zu verwirrter, launischer Mensch, zudem verspüre ich keine Leidenschaft mehr, also denkt daran: Es ist besser zu verglühen als dahin zu siechen.“

Seattle trauerte. In einem Park nahe der Space Needle versammelten sich zwei Tage später etwa 5.000 Fans, um Abschied zu nehmen. Einer von ihnen, Daniel Kaspar, beging im Anschluss ebenfalls Selbstmord. Als Botschaft an die Menge hatte Love ein Tonband aufgenommen, das abgespielt wurde. Es enthielt Passagen aus Cobains Abschiedsbrief, zudem schilderte sie ihre eigenen Gefühle

bezüglich der Bekenntnisse und Zweifel ihres „traurigen, kleinen, sensiblen, im Sternzeichen der Fische geborenen Jesus-Mannes“. Nachdem sie den Abschiedsbrief verlesen hatte, schluchzte sie: „Ich will, dass ihr eine Sache begreift. Dieser toughe Achtziger-Jahre-Scheißdreck funktioniert nicht. Ich, wir alle, hätten ihm seine Fluchten gewähren müssen. Wir hätten ihm die Dinge geben müssen, die er brauchte, um sich besser zu fühlen.“

Anderswo in den USA trafen sich kleinere Gruppen von Fans, um gemeinsam zu trauern. Einer von ihnen äußerte seine Gefühle gegenüber „USA Today“: „Er war durchgeknallt, und er war ein Gott. Ich mochte ihn wirklich.“

In der Unity Church Of Truth, nur wenige Häuserblöcke von der Massenzeremonie entfernt, verlas Cobains Bandkollege Krist Novoselic vor 150 ernsten Gesichtern einen Nachruf: „Wir erinnern uns an Kurt, wie er war: aufmerksam, großzügig und sanft. Lasst uns die Musik im Herzen tragen. Sie wird immer bei uns sein.“ Dylan Carlson, einer der wenigen langjährigen Freunde Cobains, verlas bei dieser privaten Trauerfeier ein hinduistisches Gedicht. Love las aus dem Buch Hiob, rezitierte Verse von Cobains Lieblingsdichter Arthur Rimbaud und Passagen aus dem Abschiedsbrief. Gary Gersh, der Nirvana für Geffen Records unter Vertrag genommen hatte, verlas ein Fax von R.E.M.-Sänger Michael Stipe, einem der wenigen Idole Cobains. Beide hatten während der letzten Monate an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet.

Der letzte Redner war Danny Goldberg, ehemaliger Manager von Nirvana und mittlerweile Chef der Plattenfirma Atlantic Records. Nach der Feier sagte er: „Ich glaube, dass Courtney Love der Grund ist, warum Kurt nicht schon früher Schluss gemacht hat. Als ich ihn erstmals traf, war er äußerst deprimiert. Seine Liebe zu ihr war einer der Gründe, warum er nicht schon früher aufgegeben hat.“ Cobains vielzitierte Depression brach sich bereits am 3. März in einem Hotelzimmer in Rom Bahn. Hier, während einer Pause von der Europatournee, mit der Nirvana ihr drittes Studioalbum „In Utero“ promoteten, begann die Kausalkette, die zu seinem Tod führte. Cobain bat einen Hotelpagen, sein Rezept für den Tranquilizer Rohypnol einzulösen, zudem orderte er beim Zimmerservice zwei Flaschen Champagner. Seine Freunde bestehen darauf, dass er „niemals trank“. Am folgenden Morgen fand ihn jedenfalls Love komatös auf dem Boden liegend, kurz darauf prangte der Name Kurt Cobain zusammen mit den Worten „Drogen“ und „Alkohol“ auf nahezu jeder Boulevardzeitung der westlichen Welt. Eine Quelle berichtet jetzt, dass Cobain 50 Tabletten geschluckt haben soll, und dass ein Abschiedsbrief gefunden worden sei.

Ein paar Tage später, nachdem er aus seinem 20 Stunden währenden Schlaf aufgewacht war, wurde Cobain aus dem Krankenhaus entlassen. Er kehrte nach Seattle zurück, sprach von seinem Projekt mit Michael Stipe und verbrachte angeblich sogar mit dem Rest der Band ein paar Stunden im Studio, um Demos von neuen Songs aufzunehmen. Dennoch war die Lage noch immer dramatisch. Eine Quelle behauptet, Cobain sei regelrecht durchgedreht. Er habe ständig bei seiner Managementfirma Gold Mountain angerufen und sich über den Presserummel beklagt, den der Vorfall in Rom ausgelöst hatte. Jemand aus dem Umfeld Nirvanas sagt, dass die Überdosis niemals öffentlich bekannt geworden wäre, wenn sich der Vorfall in den USA ereignet hätte: „Das wäre erst viel später herausgekommen.“

Love ließ mittlerweile verlauten, dass Cobain bei seiner Rückkehr aus Rom mit Heroin und anderen Drogen zu kämpfen hatte.

Tatsache ist, dass er schon einige Male versehentlich überdosiert hatte. Am 2. Mai des vergangenen Jahres etwa wurde er in Seattles Harborview Medical Center eingeliefert, nachdem er auf einer Party Heroin im Wert von 30 bis 40 Dollar injiziert hatte.

Eine Quelle berichtet, dass Love und seine Bandkollegen ihn immer wieder dazu gedrängt hätten, seine Suchtkrankheit und seine Depressionen behandeln zu lassen. Love habe zudem die Befürchtung gehegt, das Jugendamt könne ihnen das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter entziehen. Freunde der Familie berichten von zunehmenden Streitereien zwischen Love und Cobain, in einigen Fällen soll Love sogar die Nächte außer Haus verbracht haben, um Cobains erratischem Verhalten zu entgehen. Angeblich sei sogar die Scheidung vorbereitet worden, was die Managementfirma Gold Mountain allerdings bestreitet.

Eine Auseinandersetzung am 18. März hat dazu geführt, dass sich Cobain in einem Zimmer seiner kürzlich erworbenen, 1,1 Millionen Dollar teuren Villa im ruhigen Stadtteil Madrona einschloss, bewaffnet mit einem Revolver des Kaliber 38. Love wählte den Notruf. Laut Polizeibericht „hat sich Cobain, Curt (!) laut eigener Aussage deshalb eingesperrt, um von Cobain, Courtney, getrennt zu sein. Er versicherte, keine Selbstmordabsichten zu haben und sich nicht verletzen zu wollen“. Die Polizisten räumen heute ein, dass es sich um eine „sensible Situation und eine Selbstmorddrohung“ gehandelt habe. Die Polizei konfiszierte Cobains Revolver und eine Flasche mit „entsprechenden Tabletten“, die der Sänger bei sich trug. Gegenüber der Presse äußerte Polizei-Officer Vinette Tichi, dass „der Verwendungszweck der Pillen nicht geklärt worden sei“. Love verriet den Polizisten Cobains Waffenversteck. Zwei Handfeuerwaffen der Typen Beretta 380 und Taurus 38, ein halbautomatisches Gewehr der Marke Colt und 25 Schachteln mit Munition wurden ebenfalls konfisziert. Cobain, der nicht festgenommen wurde, „verließ das Anwesen“. Drei der Waffen waren anlässlich eines häuslichen Streits schon im Sommer zuvor befristet eingezogen worden.

Die Bandkollegen Dave Grohl und Krist Novoselic merkten recht schnell, dass es für Nirvana keine Zukunft gebe, solange Cobain keine Hilfe in Anspruch nimmt. Love erzählte später dem Sender MTV, Cobain habe die Band satt gehabt. Der Rest der Welt ahnte Mitte März jedenfalls noch nicht, wie schrecklich Cobains Verfassung wirklich war.

Um den 23. März herum schritt Love zur Tat, sie beauftragte einige seiner Freunde, ihn nicht aus den Augen zu lassen, da er womöglich einen weiteren Selbstmordversuch plane. Zudem sollte er zum Zwecke des Heroinentzugs in eine Klinik eingewiesen werden. Danny Goldberg, der momentane Bandmanager John Silva und ein paar andere Mitarbeiter flogen am 25. März nach Seattle, wo sie einen Drogenberater aufsuchten und den Versuch starteten, Cobain von der Notwendigkeit des Entzugs zu überzeugen. Quellen berichten, dass Love am selben Tag nach Los Angeles flog, um ihrerseits eine Drogenentgiftung durchzuführen. Gold Mountain behauptet, sie habe lediglich versucht, von Beruhigungsmitteln loszukommen.

Drei Tage später begab sich Cobain in die Exodus-Entzugsklinik, wo er bereits 1992 vier schlimme Tage verbracht hatte. Erneut brach er ab, bevor die Behandlung abgeschlossen war. Traurigerweise für immer. (Am 7. April, zwei Tage nach Cobains Tod, wurde Love aufgrund einer möglichen Überdosis ins Krankenhaus der kalifornischen Stadt Century City eingewiesen.)

Nach der öffentlichen, von Kerzenlicht erhellten Trauerfeier verbrannten Fans Flanellhemden und brüllten nach Nirvana-Songs, die dann auch eingespielt wurden. Die Polizei scheiterte daran, die Fans von einem öffentlichen Springbrunnen fernzuhalten. Love, den zerknitterten Abschiedsbrief in Händen, ging in der wogenden Masse fast unter. Sie verschwand kurz, kehrte dann aber zurück und verteilte unter den Fans Kleidung und andere Dinge aus Cobains persönlichem Besitz. Anwesenden gegenüber, bezeichnete sie sich als „zornig“ und „emotional am Ende“.

Kim Warnick von der lokalen Band Fastbacks, der zusammen mit Marco Collins, dem Programmdirektor des Senders KNDD, die Trauerfeier zu organisieren half, beobachtete folgende Szene: „Er hätte das hier sehr gemocht“, meinte Courtney Love. Collins ließ seinen Blick über die mageren Teens mit ihren gebleichten Haaren, ihren traurigen Augen und zerrissenen Jeans schweifen. „All diese Kids hier“, antwortete er, „sehen ohnehin aus, als kämen sie aus seiner Welt.“

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