Almost Famous

Benjamin von Stuckrad-Barre, Redakteur der (fast) ersten Stunde, erinnert sich.

Musikjournalismus, du blaues Blümelein: Da bekommt man alle neuen Platten geschickt, Freikarten für Konzerte (mithin eine wirkungsvolle Flirtdreingabe: „Ich stehe plus eins auf der Gästeliste!“), und manchmal gibt es am Gästeeingang sogar noch ein paar Getränkebons. Ich hatte gerade das Abitur gemacht, war nach Hamburg gezogen und konnte mir nichts Schöneres vorstellen. Die Mitwohnzentrale hatte mir eine Dreimonatsbleibe in einer Wohngemeinschaft zugewiesen, und nun konnte es losgehen. Als 250-Marks-Praktikant bei dem Label LAge d’Or saß ich zwar nicht direkt im Zentrum der Musikindustrie, aber wenn mich der Labelboss Carol um 18 Uhr zum Supermarkt auf der anderen Straßenseite Bierholen schickte, weil Tilman Rossmy oder Frank Spüker ihren frühabendlichen Besuch angekündigt hatten, hüpfte ich mehr als dass ich ging, und mit jedem Hüpfer wurde mir klarer: Studieren werde ich nicht, hier bin ich richtig, das geht jetzt immer so weiter.

Schon als ich in den Schulpausen von der Telefonzelle aus Rezensionsexemplare bestellt und große Besprechungen in nicht existierenden Göttinger Stadtzeitungen angekündigt hatte, war die Vorwahl 040 die am häufigsten zu wählende gewesen. Zwar war die Mauer bereits gefallen, aber noch war von Berlin-Umzügen nicht die Rede, dort mussten wohl erst noch Telefonleitungen gelegt werden und ein bisschen mit Immobilien rumgeschoben; Politik fand noch in Bonn statt, Musikindustrie vor allem in Hamburg. Außerdem hatte das Frühwerk Udo Lindenbergs mir in der Kindheit eine große Hamburg-Sehnsucht implantiert, es kam keine andere Stadt in Frage.

Nun war ich dort, und ich bemühte mich, den Briefkasten täglich mit wattierten Umschlägen voll neuer Musik gefüllt zu bekommen. Ich rief weiterhin bei allen Plattenfirmen an, bestellte und versprach, und wenn der Interviewtag irgendeines Musikanten noch Lücken aufwies, durfte ich mit Diktiergerät und meinen paar ärmlichen Fragen in einem glitzernden Hotel antanzen; ich hatte dann immer ein paar Arbeitsproben dabei, um im direkten Gespräch die Pressedamen zu überreden, „in den Verteiler zu kommen“, also automatisch Platten und Konzertkarten zugeschickt zu bekommen. Weil es natürlich viele junge Männer gab, die es ungefähr auf diese Weise versuchten, bekam ich immer nur die läppischsten Interviewtermine, aber das machte mir nichts – mit halbwegs abgemeldeten Leuten eine halbe Stunde rumzusitzen war mir fast lieber, so konnte ich es nicht groß vergeigen, es war ja eh wurscht. Zwei Karten für das Blur-Konzert gegen ein 20-minütiges Gespräch mit dem müden Schlagzeuger? Aber gern! Klaus Lage? Unbedingt!

So lernte ich den (damals einzigen) Redakteur der gerade zum ersten Mal erschienenen deutschen Ausgabe des RS kennen: Er saß in einem Sessel auf dem Flur vor der Suite, in der Klaus Lage interviewt werden wollte. Redakteur Willander hatte sein Interview schon geführt, nun saß er dort und rauchte noch eine, das Hotelflurlicht war so schön, und die Getränke bezahlte die Plattenfirma, draußen wartete nur Hamburger Herbst, was soll’s. Von Anfang an: eine Notgemeinschaft. Willander erzählte mir also vom RS, und ich dachte, das ist sie jetzt, diese eine Chance, die jeder Mensch in seinem Leben bekommt, und gab also ihm den Arbeitsprobenstapel, der eigentlich für die Plattenfirmendame vorgesehen war, aber die hieß sowieso nur Sylvia oder Sabine und machte ohnehin nicht den Eindruck, als sei Lesen ihr allergrößtes Hobby. Ein paar Wochen später durfte ich erstmals auf Dienstreise gehen: mein erster Auftrag! Natürlich einer, zu dem sich sonst niemand aus dem Mitarbeiterstamm herabgelassen hatte, aber ich fand ihn lustig, außerdem beinhaltete die Mission auch einen Flug und eine Hotelübernachtung, und das kam mir alles sehr aufregend vor.

Jetzt ging er also los, der richtige Musikjournalismus: Die Band Pur feierte eine Multiplatinverleihung, ich soff mir einen an und schrieb mein Notizbuch voll. Am nächsten morgen im Frühstückssaal traf ich den Musikredakteur der Zeitschrift „Gala“, der trank schon morgens ein Gläschen Champagner und erzählte von einem Roxette-Interview in Schweden. In der Woche drauf kaufte ich mir die „Gala“ und fand darin etwa acht Zeilen über Roxette; im neuen RS hingegen stand Willanders Geschichte über Klaus Lage, mit dem bis heute unvergessenen Satz „Lage laviert“.

Ein paar Monate später wurde plötzlich ein Redakteur gesucht, und ich war halt gerade da und nicht sehr anspruchsvoll: Festanstellung? Muss nicht sein. Vertrag? Geht auch ohne, klar. Handschlag mit Verleger Kuhls, eher kein Homme de lettres, vielmehr ein Mann mit goldenem Armband und goldenem Humor („Der Scheck ist in der Post“), angeblich Bewohner eines Schlosses vor den Toren der Stadt, verheiratet mit einer Doppelnamenkurzhaarschnittmadame, die im Stockwerk unter der Redaktion mit harscher Stimme Pferdegalas organisierte. Kuhls gab mir originelle Steuerspartipps, zum Beispiel, die Mehrwertsteuer als Gehaltserhöhung aufzufassen, und fortan saß ich Willander gegenüber, der zwar mehr Platten geschickt bekam als ich, mir aber manchmal eine abgab. Im Wechselkurs 5:1 tauschte ich in einem CD-An-&Verkauf stapelweise Neuerscheinungen gegen den Backkatalog von Neil Young und Bob Dylan, um mehr zu erfahren über die Herren, die wir da ständig auf dem Cover hatten; Costello immerhin kannte ich schon. Ich bekam Visitenkarten, unsere Kantine hieß Esso-Tankstelle, wir hörten den ganzen Tag Musik, und es gab eine scharfe Auszubildende mit engen T-Shirts; drei Tage lang hatte ich es an der Universität versucht, aber hier gefiel es mir eindeutig besser.

Der eine Chefredakteur lief auf Socken durch die Redaktion, sein Leitsatz war: „Also, ich weiß ja nicht…“ Der andere Chefredakteur trug bis zum Bauchnabel aufgeknöpfte Hawaiihemden und Lederslipper, sein Motto, wenn nicht Schlachtruf war: „Üüüüüübrigens…“. Sobald die Sonne sich neigte, knickerte er mit der einen Hand an einer Bierdose herum, die andere Hand hatte er tief in der Hosentasche stecken, und so schlich er sich von hinten an, las, was man gerade schrieb, und fragte dann spitzbübisch: „Aha, soso. Duuuuu, saaaaaaag mal, weißt du eigentlich…“; es folgten Belehrungen und Heldengeschichten. Üüüüüübrigens! Natürlich nahm er mich nicht ernst, was ich so angemessen wie angenehm fand. Nach einem Jahr dachte ich, das war ein schönes Jahr, und jetzt muss ich weiter. Meine Kündigung begründete ich wieder mit einem Lindenberg-Lied: „Weil ich tief drin ein Flipper bin.“ Guuuuuutes Lied, sagte Mister Hawaiihemd, üüüüüübrigens, im Onkel Pö seinerzeit… Jaja, natürlich, unterbrach ich sanft – und zitierte weiter: „Ein Junge wie ich, ständig fragt der sich/ Ob das die stärkste Art ist zu leben.“

Also räumte ich meinen Schreibtisch, und bis heute halte ich diese Kündigung für eine gute Entscheidung – wie sonst hätte ich so oft zurückkommen können?

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