5 Thesen zu einer Wahl, die schon fast gelaufen scheint: 1. Baerbock hat es (vermutlich) verbockt

Die Merkel-Ära geht nach 16 Jahren zu Ende, doch die Zeichen stehen eher auf Weiter-so als auf Neubeginn. Hauptsache, der Sprit wird nicht teurer

Während der dritten Welle der Pandemie war ich in einem live übertragenen Gespräch, als es im Raum plötzlich unruhig wurde, obwohl nur etwa zehn Menschen rumstanden. Mein Gesprächspartner und ich schauten beide automatisch zur Tür: Die frisch selbst ernannte Kanzlerkandidatin hatte den Raum betreten. Es fühlte sich plötzlich wichtig an oder gar epochal, wenn Annalena Baerbock, 40, mit ihren neu angeheuerten Bodyguards irgendwo auftauchte.

Später fragte ich eine junge Intellektuelle, was denn genau die Begeisterung für Baerbock ausgelöst habe. „Der Körper spricht“, sagte sie. In einer komplizierten Welt von Pandemie und Klimakrise stehe der Körper der relativ jungen Politikerin sichtbar und sofort verständlich für den linearen Fortschrittsgedanken einer immer liberaler und emanzipatorischer werdenden Gesellschaft.

Es folgten ein paar glückliche Tage im Mai, die Umfragewerte der Grünen stiegen hoch auf 28 Prozent, und die emanzipatorisch gepolten Linksliberalen dachten, dass jetzt endlich alles nach ihrem Gusto laufen würde. Dann sprach der Körper nicht mehr, beziehungsweise er sprach auch zu denen, die darauf negativ reagierten, und es begann der richtige Wahlkampf. Leute, die weniger an grünem Wachstum interessiert waren oder einfach nur andere Pläne hatten, schauten sich die Kandidatin genauer an, fanden einiges Problematisierbare in verspäteten Meldungen von Nebeneinnahmen, einem nicht korrekt aufgeschriebenen Lebenslauf und beim schnellen Zusammenschreiben eines Buches.

Als wäre es ein Exzellenzausweis, sich am meisten zu ärgern. Keiner kam auf die Idee zurückzufragen: Ja, wer denn sonst, Frau Baerbock, wenn nicht Sie?

Ungeachtet der Frage, ob die Vorwürfe Substanz hatten oder Pipifax waren, stellte sich heraus: Die Kandidatin war schlecht vorbereitet, schlecht beraten und konnte mit der Situation schlecht umgehen. Beim Grünen-Parteitag hielt sie eine normale Baerbock-Rede, also eine, in der sie zwar Zukunftspolitik skizzierte, sich dabei aber von einer Phrase zur nächsten hangelte, von „In diesem Sommer dreht sich der Wind“ bis „Wir brauchen jetzt die Zuversicht des Handelns“. Zu ihren Versäumnissen oder falschen Angaben, sagte sie in einer Fernsehtalkshow: „Aus Fehlern lernt man.“ Und immer wieder, dass sie sich „selbst am meisten ärgere“. Als wäre es ein Exzellenzausweis, sich am meisten zu ärgern. Keiner kam auf die Idee zurückzufragen: Ja, wer denn sonst, Frau Baerbock, wenn nicht Sie?

Das ist jetzt uncharmant, aber nun stellte sich in einer breiten Öffentlichkeit heraus, dass Annalena Baerbock (noch) nicht so sprechen kann, wie sie es können müsste – nicht nur um mit den Vorwürfen umzugehen, sondern vor allem um eine zweifelnde Gesellschaft für ernsthafte Klima- politik und eine Transformation ihres wirtschaftlichen und kulturellen Betriebssystems zu gewinnen.

Obwohl die Testumfragen das überhaupt nicht hergaben, hatte die Mehrheit der Grünen-Funktionäre gehofft, mit der Zuspitzung ihres Politikangebots durch diese relativ junge Frau zusätzliche Wähler für sich und die Klimapolitik gewinnen zu können. Danach sieht es derzeit nicht mehr aus. Es hat sich sogar umgedreht. War die Idee vorher, dass man Merkel-Wähler von der liberalen Seite der CDU gewinnen kann, die Baerbock so toll finden, dass sie sich auch von der Notwendigkeit von Klimapolitik überzeugen lassen oder gar von einer grün geführten Bundesregierung, können sich die Charakterzweifel, die von interessierter Seite vorangetrieben wurden, nun gegenteilig auswirken – und sich zu einem Lieber-doch-nicht verdichten.

Immer wieder zeigt sich, dass die klimapolitische Mehrheit der Gesellschaft zwar steht, aber nur solange der Sprit nicht teurer wird. Diesen eklatanten Widerspruch kann man nicht durch Bürgerbeschimpfungen auflösen, sondern man muss bereit sein, damit umzugehen, so schwierig das auch ist. Das heißt, zu einer zunehmend unsicherer werdenden Gesellschaft kann man entweder sagen: Alles kein Problem – wenn ihr CDU wählt. Oder man muss auf verschiedenen Ebenen Vertrauen aufbauen können, wenn man sie zu freiwilliger Bewegung bringen will.

Das hat Baerbock bisher nicht geschafft.

Vorwürfe gegen sie mit dem Identitätspolitik-üblichen Standard zu kontern, Männer seien misogyn und Frauen unsolidarisch, wenn sie Baerbock kritisieren, ist selbstverständlich verlockend, aber intellektuell und kulturell mindestens unterkomplex. Ein bestimmter Männertypus produziert im Netz Hass gegen Baerbock, weil sie eine Frau ist. Und es gibt auch Neid bei anderen Frauen, weil sie nicht eine ist, die brav wartet, bis sie dran ist, sondern sich nimmt, was sie haben will. Doch Ersteres verpestet zwar Teile der Mediengesellschaft und ist für die Betroffene schwer zu ertragen. Aber es ist nicht wahlentscheidend und steht für einen reaktionären Rand und nicht für die relativ liberale Mehrheitsgesellschaft.

Entscheidend ist, ob Baerbock die soziokulturelle Entwicklung verstärken kann, die die Grünen zu einer führenden Kraft der Mitte gemacht hat – oder ob sie die Entwicklung zurückwirft und die Anschluss suchenden Merkel- Wähler dann doch lieber zu Laschet gehen als mit ihr.

Was sie sagt, klingt manchmal wie vom politischen Rosamunde-Pilcher-Reißbrett

Und da sind wir wieder bei ihrem Sprechen. Ihre Sätze, ihre Bilder sollen die neuen Grünen zeigen, die die Mehrheit der Gesellschaft vertreten wollen, Junge wie Alte, Metropole und Provinz. Da wird ihre Oma gefeiert, eine Putzfrau, „und all die Generationen, die so viel erlitten, erkämpft und geleistet haben“ und denen sie deshalb ihr Buch gewidmet hat. Da wird in einer Talkshow der Hinweis fallen gelassen, dass bei Baerbocks zu Hause Musik von Helene Fischer laufe, da erzählt sie an anderer Stelle, dass sie vom Dorf komme und deshalb mit achtzehn ein Auto gebraucht habe und dass sie „im Herzen ein Dorfkind geblieben“ sei.

Mag ja alles sein. Aber es klingt manchmal wie vom politischen Rosamunde-Pilcher-Reißbrett. Warum laufen denn die Negativstorys über sie so gut? Weil viele Menschen nicht über den richtigen CO2-Preis diskutieren wollen und können, sondern neugierig sind, was für ein Mensch die Politikerin ist, der sie vertrauen sollen oder wollen. Die Negativstorys sind bei Leuten angekommen, die Positivstorys nicht. Und das liegt auch daran, dass, um es mal knallhart konsumistisch zu sagen, Baerbock sie nicht verkaufen konnte. Nun, diese Art Verkaufe hat auch Kanzlerin Merkel nie gemacht, geschweige denn gekonnt. Aber der Vergleich funktioniert leider nicht, aus unterschiedlichen Gründen, vor allem aber weil die Menschen glauben, Merkel zu kennen.

Jedenfalls hat Baerbock versucht, die Angriffe an sich abgleiten zu lassen oder über sie hinwegzusprechen. Vielleicht wäre es besser gewesen zu sagen: Hört mal zu, Leute! Und dann die Vorwürfe ernsthaft aufzunehmen und dabei zu erklären, wer man eigentlich ist, als 40-jährige Frau, Mutter und Politikerin aus der Erasmus-Generation, die im Vergleich zu allen Vorgängergenerationen schon ziemlich privilegiert aufwuchs und nun dieses Privileg als Grundlage nehmen will, um das Gemeinsame voranubringen. Die aber schon auch mit harten Widerständen zu kämpfen hat, als Frau, als grüne Politikerin, weil die Macht in den Händen anderer ist. Dabei auch mal zweifelnd und selbstironisch sein und statt auch noch beim Sich-Ärgern die Beste sein zu wollen, zu reflektieren, was dieser Streberinnengestus mit ihrer Generation zu tun hat. Nicht nur auf Kolportage-Nummer-Sicher über die Oma und deren selbst gemachte Hefeklöße reden, sondern wirklich über sich und darüber, wie es aussieht, wenn man Annalena Baerbock ist. Damit die Leute berührt sind und dadurch Vertrauen fassen. Zu ihr. Zu ihrer Partei. Zur Klimapolitik.

Wobei eines von Anfang an hätte stutzig machen müssen: Wer so klar den Idealen der eigenen Funktionäre entspricht wie Baerbock, hat es in einer heterogenen Gesamtgesellschaft schwer, breit zu wirken. Kanzler müssen größer sein als ihre Partei. Kanzlerkandidatinnen auch.

Getty Images
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