Das drohende Verschwinden der Merkwürdigen

Stellt euch vor, es finden wieder Konzerte statt, und keiner geht hin. Unser Kolumnist Rocko Schamoni warnt vorm großen Artensterben

Ich möchte die aktuelle Kolumne dafür nutzen um auf einen Missstand aufmerksam zu machen, von dem die meisten von euch zwar wissen, der aber dennoch nicht im Bewusstsein angekommen zu sein scheint. Mit „euch“ meine ich in diesem Fall die über 35-Jährigen, also die Alten, die Szenerentner, die Silberzwiebeln, die Auszusortierenden, den genetischen Abfall. Es geht um den Besuch von kulturellen Auftritten jeder Art.

Ich fang mal ganz von vorne an: Als Shawn Fanning 1999 mit seinem Unternehmen Napster behauptete er würde die Musikindustrie zerschlagen, erklärte er das zu einem revolutionären Akt. Er behauptete, er würde den Usern – all den armen kleinen mittellosen Endverbrauchern an den Kabeln zu Hause – umsonst zu der Musik verhelfen, nach der sie sich sehnten und die Plattenfirmen, die permanent unverschämte Gewinne in die Tasche steckten, endgültig ausschalten. Das gelang ihm nicht, Napster wurde (unter anderem von Bertelsmann!) aufgekauft, die Musikindustrie war ein paar Jahre geschockt von diesem tiefsitzenden Leberhaken, erholte sich aber dann mit der Erfindung des Streamings und dem Auftauchen von Streamingplattformen wie Spotify, und mittlerweile sind die Gewinne angeblich höher als vor den Zeiten digitalisierter Musik. Wer bei all dem geflissentlich übersehen wurde, waren die Künstler*innen, vor allem die kleineren, unabhängigen, denn die verloren zuerst durch Napster ihre zahlenden Kunden, sowie später durch Spotify eine angemessene Entlohnung für die Benutzung ihrer Musik. Während ich also früher für die Produktion einer LP und durch deren Verkauf ein paar tausend Euro verdienen konnte, muss ich nun auf die monatlichen Abrechnungen der Streamingdienste warten, von diesen Gewinnen ziehen sich die Labels und Verlage weitere Prozentzahlen ab, und übrig bleibt so gut wie nichts. Letztendlich sind die produzierten Platten seit der Digitalisierung für die meisten Künstler*innen nichts weiter als Werbetools, um Publikum zu den Auftritten zu locken. Aber wenigstens das Live-Business blieb, davon konnten viele in diesem Bereich Arbeitende ganz gut leben. Bis Corona kam.

Wir alle haben nach der zweijährigen Durststrecke und all den ausgefallenen Shows sehr stark darauf gehofft, dass – wenn sich alle Leute impfen lassen und die Seuche endgültig überwunden ist – die Fans wieder zu den Auftritten kommen werden. Was wir nicht berechnet hatten, war der Faktor Mensch: Viele Leute in diesem Land wollen sich nicht impfen lassen, dadurch bleibt die Seuche ständig im Umlauf und dadurch wiederum bleiben viele der älteren Auftrittsbesucher*innen, die sich mittlerweile in einen Kokon aus Spotify und Netflix auf dem Sofa eingesponnen haben, für immer zu Hause.

FÜR IMMER ZU HAUSE!

Von den Besuchern, die bis 2019 unsere Auftritte besuchten kommen heute höchstens noch ein VIERTEL zu den Shows, wie gesagt, auch hier spreche ich von den kleineren Künstler*innen, die Großen betrifft dieser Effekt eher nicht, aus irgendwelchen Gründen nehmen die User das Ansteckungsrisiko bei Massenkonzerten lieber in Kauf.

Das bedeutet dementsprechend auch eine Viertelung der Einnahmen. Ich, der ich als Künstler viele Jahre fast ausschließlich von Toureinnahmen gelebt habe, kann von einem Viertel der üblichen Gagen meinen Kleinbetrieb nicht am Laufen halten. Und ich kenne sehr viele Künstler*innen, denen es genauso geht und die sich mittlerweile nach anderen Verdienstmöglichkeiten umschauen müssen. Auch die „Zulieferbetriebe“, die Booker, Tourbegleiter, Grafiker, Roadies, Bühnenarbeiter etc. straucheln, ein ganzer Kulturzweig ist ins Wanken geraten.

Ich weiß, das alles ist Jammern auf hohem Niveau, schließlich leben wir in Kriegszeiten und beobachten noch viel schlimmere Formen des Elends in der Ukraine, in Afghanistan, dem Irak und anderswo. Ganz abgesehen vom Klimawandel, der als gigantische Wand des Dramas auf uns zurast.

Dennoch möchte ich vor dem Artensterben in der Kultur noch mal eindringlich warnen, denn ehe man sich versieht, verschwinden die Kleinen, die Speziellen Merkwürdigen, Andersartigen, Besonderen, Dysfunktionalen, Unfähigen, Sperrigen, Unbestechlichen, Skeptischen, Widerborstigen, Nervigen, Bescheuerten. Sie verschwinden zuerst, denn sie sind nicht resilient, haben keine großen Reserven angelegt, sind sensible Mimosen, trocknen aus, verdorren, suchen sich Jobs bei der Post oder als Zalando-Boten und sind dann für immer aus der Welt.

Darum, ihr zu Hause Sitzenden: lasst nicht zu, dass die Merkwürdigen verschwinden:

KOMMT VON DEN SOFAS!

KOMMT AUS DEN KOMFORTZONEN!

KOMMT WIEDER ZU DEN AUFTRITTEN!

Autorenbild von Kerstin Behrendt

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