Das neue Universum

Dylan brachte dem Rock’n’Roll das Geschichtenerzählen bei – und die Erkenntnis, dass Rebellion in der Seele beginnt.

Der Strobo-Hobo

Es gibt im Film „Great Balls Of Fire“ eine Szene, da schleicht sich – im Amerika der 40er-Jahre – ein Junge mit seinem Bruder in den schwarzen Teil der Stadt. Er schaut durch das Fenster in eine Hütte. Dort geht die Post ab. Die Musik ist wild. Männer und Frauen tanzen unkontrolliert. Keine Paartänze, sondern Paarungstänze. Es liegt Verbotenes in der Luft. Der Junge ist Jerry Lee Lewis – er sollte eine Art Elvis am Piano werden. Mit ihm brachte der Rock’n’Roll die Körperlichkeit, die Sexualität der schwarzen Musik zu den Kindern der weißen Mittelschicht. Die Eltern spürten, welche Gefahr davon ausging. Es war Rebellion.

Aber es ging nur um die Befreiung der Körper. Textlich war es eher: „Splish, splash, I was taking a bath“. Selbst der aggressive Blues und Rock der unvergleichlichen Rolling Stones war zunächst vor allem sexuelle, dio-nysische Rebellion. Bis Bob Dylan kam. Mit einem riesigen Schatz an Geschichten. Tiefen, lustigen, absurden, zornigen Geschichten. Die gab es bis dahin nur in der Folk- und Countrymusik Amerikas: Balladen über Gesetzlose, Seefahrer, Minenarbeiter, Mädchen, die sich aus Liebeskummer umbringen. Die Gestalten, die Geschichten, die Ernsthaftigkeit des Folk verschmolz Dylan mit der körperlichen Power des Rock’n’Roll. „Die ganze Welt hört euch zu, aber Ihr sagt nichts“, warf er den Beatles vor. Wie auch? Sie wussten es nicht. Dylan zeigte, wie es geht. Plötzlich konnte Rockmusik etwas aussagen. Und die Rockmusiker wollten es lernen. Ein ganzes Universum tat sich auf.

Dylan war als drolliges Folk-Unikum nach New York gekommen, wurde zum Star der Ostküstenszene als Schöpfer der stärksten politischen Songs der Vietnamzeit. Als er dann Liebeslieder komponierte, runzelte die Szene die Stirn. Dylans halluzinogener, surrealer Folk-Rock war zu viel für sie: „Kurze Hosen, erste Romanze, lern‘ zu tanzen. Zieh‘ dich an, hol dir deinen Segen. Gefall‘ der, gefall‘ dem, kauf‘ Geschenke, klau‘ nichts. 20 Jahre Schule und dann stecken sie dich in die Tagschicht.“ Verdichtet bis zu einzelnen Wörtern: alle Zwänge einer verlogenen Welt, der Text angetrieben von peitschenden Rhythmen. Jede Note ein Schuss. Jedes Wort ein Volltreffer. Mehr gab es einfach nicht zu sagen. „Verräter!“, schrien die Vertreter der Gegenkultur. Sie wollten, dass Dylan ewig Folksänger bleibt.

„Es gibt Milieus, in denen ist der Protest eine Form der Anpassung“, schrieb der Publizist Johannes Gross einmal. Ich selbst hatte als junger Mensch lange Haare, und mir fiel auf: Immer wenn es um kontroverse Themen ging, waren alle meine Freunde wie auf Knopfdruck derselben Meinung. Es machte mich skeptisch. Dy-lans Rat dazu: „If you need somebody you can trust – trust yourself“.

Heute arbeite ich in einer Branche, in der jeder wie eine Monstranz vor sich herträgt, was andere als die Wahrheit annehmen sollen. Aber was ist Wahrheit? Ein Chefarzt vollbringt gelungene Eingriffe, demütigt dabei aber ständig und zwanghaft seine Mitarbeiter. Ist er ein Held oder ein Lump? Ein Chefredakteur deckt einen Skandal nach dem anderen auf, kämpft für die Freiheit. Außer in seiner Redaktion. Dort ist er der Tyrann. Was ist die Wahrheit? Heuchelei gibt es nicht nur in der Politik, es gibt sie überall. „All the truth in the world adds up to one big lie“, singt Dylan.

Manche deuten die ungeschminkte Weltsicht Dylans als Zynismus, aber das ist ein Missverständnis. Es gibt einen Kompass, mit dem wir uns durch das Dickicht der Lügen und Zwänge bewegen können. Die Seele kennt ihn, aber sie findet ihn nur zwischen Tag und Traum, kurz vor Morgengrauen. Das Reich der Nacht hat sich in Sand aufgelöst, die Straßen sind leer, man sieht nur einen Mann mit Tamburin. Er soll spielen. „Ich verspreche, ich folge dir, Mister Tambourine Man. Hilf mir verschwinden, durch die nebeligen Ruinen der Zeit.“

Heute verstehe ich, wovon der Song handelt. Von der eigenen Lebensmelodie, der jeder alleine nachspüren muss. Das ist der Preis für ein echtes, ein eigenes Leben. Zunächst scheint es anstrengend, mit dem Zeitgeist über Kreuz zu sein. Aber man kann sich trösten: „Die Zeiten sind seltsam, ich bin eingezwängt, außer Reichweite. Das hat mir mal was ausgemacht, aber das war einmal.“ So gelassen kann man werden. Bob Dylan muss es wissen. Er hat lange genug durchgehalten.

Tom Buhrow ist Journalist und seit dem 13. Lebensjahr Dylan-Fan. Derzeit moderiert er die „Tagesthemen“ in der ARD.

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