Das ungekürzte Blixa Bargeld-Interview: Ein genialer Dilettant

Blixa Bargeld ist eine Ikone Westberlins. Trosten Groß traf ihn im Interview, wo Bargeld über die Szene in Westberlin, Meister Nadelöhr, Heavy-Metal und den Mauerfall sprach. Ein gutes Thema für diesen besonderen Feiertag.

Gegen die Wand: Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Seit 1989 ist sie Geschichte – was hat sie für die Popmusik bedeutet? Zum 50. Jahrestag: das Mauer-Special mit U2 und Bowie, Puhdys und Tresor. Lesen Sie hier das ungekürzte Interview mit Blixa Bargeld.

Blixa Bargeld, wie erinnern Sie sich an ihre Kindheit und Jugend im geteilten Berlin?

Ich bin als Westberliner Jahrgang 1959 in diese Stadt reingeboren worden und insofern mit der Mauer aufgewachsen. Mir war allerdings nie bewusst, dass das jetzt so unglaublich außergewöhnlich ist. Es war tatsächlich ein Inseldasein. Ich war nie in Ost-Berlin. Natürlich stand ich mal auf der Aussichtsplattform und hab da rübergeguckt, aber mir war das fremd, weil ich ja das ungeteilte Deutschland gar nicht kennen gelernt hatte.

Gab es einen besonderen Grund dafür, dass Sie nie in Ost-Berlin waren?

Das Interesse war einfach nicht da. Man hat ja auch so was mitgekriegt … Wir sind mit DDR 1 und 2 aufgewachsen. Wenn man einen Kleiderbügel als Antenne in den Fernseher steckte, war das das Einzige, was man empfangen konnte – und natürlich die drei westdeutschen Programme. Aber DDR1 hatte tatsächlich mitunter das attraktivere Programm. Oft die besseren Filme und auf jeden Fall die besseren Kindersendungen. Das prägt natürlich auch. Ich kann mich mit Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, ohne Probleme über Meister Nadelöhr und die russischen Märchenfilme unterhalten.

Trotzdem erwuchs daraus kein tieferes Interesse am Osten?

Selbst wenn ich das Interesse gehabt hätte: Die Situation als Westberliner, der aus Sicht der DDR eine separate politische Entität darstellt, war ja eine sehr spezielle. Ich konnte ja nicht einfach über die Grenze laufen, das war eine ganz andere Situation. Wenn ich sage, ich war nie in Ost-Berlin, meine ich damit übrigens den erwachsenen Blixa Bargeld. Als Kind war ich einmal mit meinen Eltern auf einem Ausflug, um mir das Pergamonmuseum anzusehen, das war’s. Als West-Berliner musstest du 120 DM umtauschen, um 120 Ostmark zu kriegen, mit denen man dann da drüben nicht viel anfangen konnte. Man kaufte vielleicht ein paar Bücher und fuhr wieder rüber, das brachte es einfach nicht.

Begünstigt durch Subventionen, die Insellage und den Zuzug einer bestimmten Klientel von Menschen, die sich so der Wehrpflicht entziehen wollten, hatte sich die Berliner Kulturszene in den 80er-Jahren zu einer Art Freiluftlabor entwickelt, in dem alles möglich schien. Wie viel hatte diese besondere Stimmung mit der Teilung zu tun?

Ein Soziotop war das. Oder ist es, kleine Reste davon sind ja immer noch vorhanden. Die Bundeswehrfreistellung war auf jeden Fall ein ganz wichtiger Faktor. Man konnte nachts viermal von irgendwelchen Leuten angehalten werden, die mit Untermietverträgen rumfuchtelten, weil sie sich irgendwo anmelden wollten. Und natürlich war Berlin billiger als andere Städte. Was aber dabei oft vergessen wird: Es gab eine ganz extreme Wohnungsnot zu dieser Zeit, was ja dann auch zu dieser ganzen Sanierungsarie geführt hat. Ich habe bestimmt zehn Jahre meines Lebens keine feste eigene Wohnung gehabt. Aber wenn man dann einmal so ein Einzimmerloch mit Außenklo gefunden hatte, war es auf jeden Fall viel billiger als irgendwo in Westdeutschland.

„Die Beschränkung macht das Nachdenken interessant“, haben sie kürzlich in der „Zeit“ gesagt. Berlin war ja gewissermaßen eine beschränkte Stadt. Wäre die musikalische Entwicklung der Neubauten auch in einer anderen Stadt möglich gewesen als dem damaligen West-Berlin?

Ich hätte früher immer gedacht, das spiele keine Rolle, mir war dieser Unterschied wirklich nicht bewusst – bis wir zum ersten Mal in anderen Städten aufgetreten sind. Das erste Konzert außerhalb von Berlin war in Hamburg. Während man hier so exzentrisch sein konnte, wie man wollte, auch musikalisch gesprochen, ging das in Hamburg schon nicht mehr. Die erste Tour durch die westdeutsche Provinz war schrecklich. Wir wurden mit Flaschen beschmissen … Und dann dieser ganze Lokalpatriotismus und Fußballchauvinismus, das hat es in Berlin in dieser Form nicht gegeben, die Stadt war weniger intolerant. Die Unterteilung von Punks in jene, die vor der Post rumhängen, schnorren und ansonsten saufen, und in junge Menschen, die künstlerisch tätig sind – die hatte zu diesem Zeitpunkt an den meisten Orten noch nicht stattgefunden.

Diese Proben mit den Neubauten unter der Brücke …

( streng) In der Brücke, nicht unter der Brücke! Muss ich denn nach 30 Jahren immer noch … Das ist kein Druckfehler, wenn da steht: in der Brücke, nicht unter der Brücke. Das ist ein Stahlpfeiler, der hohl ist. Da musste man ein bisschen lavieren, aber es ging: man passte hinein.

Okay, dann also in der Brücke. Jedenfalls: Das eingesetzte Instrumentarium, diese Brücke, inwiefern wurden da später von den Medien aus der Not geborene Improvisationen zum Mythos verklärt?

( genervt) Jetzt entfernen wir uns aber sehr weit vom Thema. Ich bin hier für ein Mauerinterview vorbereitet und nicht für ein Gespräch über die Geschichte der Neubauten.

Nun, am Rande werden wir diese Geschichte immer wieder streifen, weil das nun einmal das ist, was Sie damals getan haben und es auch darum gehen soll, inwiefern dieser besondere künstlerische Ansatz der Neubauten und anderer der damaligen Situation im geteilten Berlin geschuldet war.

Mag sein, aber diese spezielle Situation, also einen Unraum im urbanen Umfeld zu nehmen und den quasi musikalisch zu besetzen, das hätte man in jeder industriell geprägten Stadt machen können.

Dann so: Die Freiheit, die in Berlin bestand, Dinge zu tun, die man woanders nicht tun konnte …

Was sind das denn für Dinge?

Worüber wir gerade sprachen: In dieser Form künstlerisch tätig werden zu können in diesem toleranten Klima, begünstigt durch überschaubare Preise und andere Dinge.

Das hätte man auch in jeder anderen Stadt machen können.

Aber Sie haben ja eben selbst gesagt, dass Sie auf der ersten Tournee durch andere deutsche Städte auf ein deutlich weniger tolerantes Klima stießen.

Es geht also nicht um die Autobahnbrücke?

Keineswegs, sondern um alles, was Sie mit den Neubauten getan haben.

Nun ja, da muss man mal trennen. Die Autobahnbrücke hätte man überall machen können, andere Dinge vielleicht in Westdeutschland nicht, aber in Amsterdam zum Beispiel schon.

Versuchen wir es anders: Diese ganz besondere, sehr anarchische Szene, das war schon sehr typisch für das damalige West-Berlin. Das gab es ja in dieser Form in keiner anderen Stadt, auch nicht im Ausland, Berlin hatte ja auch einen Sound, eine eigene Kunst.

Das wird immer so kolportiert. Ich weiß auch nicht genau, worüber wir da reden. Gut, Sie wollen ein bisschen diese West-Berlin-Szene beleuchten. West-Berlin bediente sich nach außen des Tricks, den Anschein zu erwecken, als würde hier unglaublich viel passieren. Hier passierte aber nicht ständig unglaublich viel, sondern manchmal sogar extrem wenig. Und die Tatsache, dass hier überhaupt etwas passierte, ist einer Handvoll Leute zu verdanken. Es gab vielleicht zwei Dutzend Leute, die von meiner Warte aus betrachtet etwas Interessantes machten, und die tauchten in allen möglichen Kombinationen immer wieder auf. Das war eine sehr überschaubare Szene, meine Wenigkeit, Gudrun (Gut), Wolfgang Müller, einige andere.

Eine frühe Manifestation dieser West-Berliner Kunst- und Musikszene war das von Ihnen mitinitiierte Festival „Die große Untergangsshow – Festival genialer Dilletanten“, das 1981 im Berliner Tempodrom ausgerichtet wurde. Wie erinnern Sie sich daran, war das eine Art Initiationsritus für diese Szene?

Die „genialen Dilletanten“ waren ein Trick. Es ging darum, diesem ganzen Phänomen der umherschweifenden künstlerischen Jugendlichen einen Namen zu geben. Das hat dann sofort die Presseartikel gegeben, weil  plötzlich ein Name da war, mit dem man das benennen konnte. Diese Bennenungswut insbesondere innerhalb der Musikkritik! Die meisten dieser Begriffe überleben doch höchstens ein halbes Jahr, wer kann sich noch an New Romantics oder Cowpunk erinnern? Das reicht immer nur für den einen Artikel in jeder Zeitung, und insofern war es ein Trick. Ich habe ein Festival veranstaltet mit dem Titel und Wolfgang Müller hat dazu ein Buch veröffentlicht, mit diversen Essays und einem Vorwort von mir – danach hatte sich das auch schon wieder erledigt. Viele, die später in West-Berlin tätig waren, waren damals dabei. Ab und zu treffe ich immer noch Leute, die sagen: „Weißt du eigentlich, dass ich auch damals bei deinem Festival dabei war?“ Übrigens auch Leute wie Dr. Motte und Westbam.

Sie verdienten Ihren Lebensunterhalt zur damaligen Zeit mit einem Barjob im Risiko. Eine Lebensform, die Sven Regener in seinem Buch „Herr Lehmann“ beschreibt, haben Sie das Buch gelesen?

Nein, das kenne ich nicht, aber es ist dasselbe Milieu, das ist mir klar. Sven Regener war natürlich auch im Risiko, da waren alle. Ursprünglich war das eine Schwulenkneipe und dann wurde sie verkauft an Alexander Kögler, auch so ein West-Berliner Urgestein, und entwickelte sich zum optimalen Start- und Endpunkt einer Nachausschweifung. Auch wegen der perfekten Lage am Brückenkopf zwischen Kreuzberg und Schöneberg. Im Schöneberg waren Läden wie der Dschungel, in Kreuzberg wohnten die meisten Leute. Und so fuhr man dann Richtung Schöneberg, traf sich im Risiko, zog weiter und kehrte morgens um fünf zum Absturz ins Risiko zurück. Das war extrem laut, gefüllt und auch ziemlich gefährlich.

Inwiefern gefährlich, wegen der Drogen?

Es gab damals die ersten Skinhead-Überfälle, dieses Phänomen entstand da gerade und da gab‘s häufiger Überfälle.

Wo haben Sie zu der Zeit gewohnt?

In einem besetzten Haus in der Frankenstraße in Schöneberg, in dem das Vorderhaus und das Hinterhaus weggebombt waren und nur ein kleiner Seitenflügel bestand, der Rest war verwildert.

Generell wohnten Sie die meiste Zeit in Kreuzberg und Schöneberg, oder?

Eine Zeitlang habe ich auch im Atelier von Christoph Dreher von Die Haut gewohnt. Der hatte eine Fabriketage in der Dresdner Straße.

In diesem mythenumrankten Dreher-Atelier haben später auch die Birthday-Party-Leute gewohnt, oder?

Ja sicher, das war alles derselbe Klüngel. Deshalb sind Birthday Party ja auch nach Berlin gezogen:  Weil sie sich an einer Hand abzählen konnten, dass sie hier mehr Freunde hatten als in London und das Leben halb so billig sein würde. In London hat Mick Harvey im Supermarkt gearbeitet, um die Band über Wasser zu halten und hier konnte man mehr oder weniger ohne Geld überleben. Da vermischten sich dann mehrere Szenen, die alle miteinander verwebt waren. Einmal die ganzen jungen Wilden mit der Galerie am Moritzplatz, Leute wie Salomè und so. Dann gab es die Mannomann-Avantgarde-Schwulenszene und so weiter. Das hatte fließende Grenzen. Größere Wohnungen und Läden spielten in diesem Soziotop eine Rolle, der Dschungel, das Risiko – oder eben die Wohnung von Christoph Dreher.

Nick Cave hat gesagt, er könne mit uns nicht über seine Berliner Zeit sprechen, da er sich nicht an sie erinnere. Dem alten Falco-Zitat nach hat er die Achtziger also offenbar wirklich erlebt. Ihr Gedächtnis scheint hingegen tadellos zu funktionieren …

Nick sagt das? Mick Harvey hat sich kürzlich auch in einem Interview an die Zeit erinnert, aber er sieht das auch alles ein bisschen verzerrt und verschwommen. An alles kann ich mich übrigens auch nicht erinnern.

Gibt‘s noch viele Verbindungen aus der Zeit?

Geht so, ich bin nicht unbedingt jemand, der viele Verbindungen hat.

Aber die ein oder andere Freundschaft hat doch vielleicht Bestand?

Ich weiß nicht, was Sie meinen. Natürlich habe ich Freunde, die ich aus Westberliner Zeiten noch kenne.

Erinnern Sie sich noch, was Sie am Tag des Mauerfalls gemacht haben?

Ich war mit Nick in einem Tonstudio in der Schlesischen Straße und habe „The Ship Song“ gemischt. Da haben wir in einer Aufnahmepause gesehen, was draußen los ist und haben dann auch mal selbst nach draußen geguckt. Das ist ja genau die Straße, an der sie den ersten Grenzübergang aufgemacht haben. Und als wir dann um vier oder fünf Uhr morgens mit dem Mix fertig waren, war die ganze Straße voll mit Leuten, die in einer Schlange vor der Bank am U-Bahnhof standen, um ihr Begrüßungsgeld abzuholen.

Was waren das für Sie als gebürtigen West-Berliner für Gefühle?

Kann ich nicht sagen, jedenfalls kein großer Gefühlsausbruch. Am nächsten Tag riefen die Journalisten aus aller Welt an und wollten Kommentare. Aber da konnte ich gar nicht so viel zu sagen, weil sich für mich relativ wenig verändert hatte. Der generelle Spruch war immer, dass die Stadt anders roch durch die ganzen Zweitaktmotoren. Aber unser tägliches Leben hat sich nicht so groß verändert. Meine Standardantwort in diesen ganzen Interviews damals war, dass die Heavy-Metal-Revolution für mein persönliches Leben viel mehr verändert hat als die deutsche Wiedervereinigung, die sich vor allem dadurch bemerkbar machte, dass ständig irgendwelche Leute in meinen Hausflur kotzten.

Gegen Ende der 80er-Jahre wurde die elektronische Musik zum vorherrschenden Sound der Stadt, also des neuen, wiedervereinigten Berlins. Ein Sound, den Sie mit den Neubauten entscheidend geprägt und beeinflusst haben. Können Sie persönlich viel mit der damaligen Techno-Szene anfangen?

Wir haben Samples benutzt, bevor es den Begriff gab. Unser Produzent der klassischen Alben war Gareth Jones, der auch Depeche Mode gemacht hat. Das war technologisch gesehen Cutting Edge.  Aber über diese Techno-Szene im Berlin der Neunziger kann ich überhaupt nichts sagen, das hat mich nicht interessiert.

Was sind die Unterschiede zwischen dem heutigen Berlin und dem West-Berlin der Achtzigerjahre, von der Mauer einmal abgesehen, wie hat sich die Stadt verändert?

Wenn man in diese ehemaligen Gegenden Schönebergs kommt, da fällt ja alles total zusammen. Die Hauptstraße, in der ich 25 Jahre gewohnt habe … Da gibt’s nur noch Matratzengeschäfte und einen Penny-Markt. Die zentralen Westberliner Bezirke haben sich total verändert: Charlottenburg ist „Charlottograd“ geworden, Schöneberg ist für die Katz … Ich sehe das heute allerdings aus einer ganz anderen Perspektive, denn ich habe ja eine kleine Tochter. Früher habe ich natürlich Städte nie danach bewertet, wie viele Spielplätze es gibt und wie gut die Kindergärten sind. Und wenn ich das jetzt im Vergleich mit Peking und San Francisco tue, ist Berlin viel kinderfreundlicher als die beiden anderen Städte zusammen, vor allem in Prenzlauer Berg.

Stürzen Sie sich bisweilen in die neue Berliner Szene?

Nachtleben habe ich keines mehr. Übrigens schon vor der Geburt meiner Tochter nicht.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates