Date mit Muttern

Während in den USA die Kritik am wenig musikalischen Programm von MTV immer lauter wird, steigen die Quoten hierzulande weiter - auch dank Reality-Shows und Cartoons

Für einen kurzen Moment der 24. „Video Music Awards“ teilte sich Justin Timberlake die Bühne mit drei Stars, die derzeit häufiger auf MTV zu sehen sind als seine Videos: L.C., Audrina und Whitney aus der Real-Life-Show „The Hills“. Nachdem das Trio Timberlake den Preis als „Best Male Artist“ überreicht hatten, machte er seinem Ärger Luft: „Spielt mehr verdammte Videos auf MTV, wetterte er. „Wir wollen keine Simpsons im Reality-TV. Spielt mehr Videos.“

Nach vier Jahren Quotenschwund lockten die diesjährigen VMAs im September wieder sieben Millionen Amerikaner vor die Fernsehschirme. Doch das sind immer noch deutlich weniger als die zwölf Millionen, die 2002 eine Rekordmarke setzten. Hinzu kommen fast durchweg negative Kritiken sowie Diskussionen um den peinlichen Auftritt von Britney Spears. Timberlakes wiederholte Forderung nach mehr Sendezeit für Videos wurde von dem kollegengespickten Publikum energisch beklatscht. „Er hat hundertprozentig Recht“, meint Pete Wentz, Bassist von Fall Out Boy. „Ich hoffe, diese Reality-Blase platzt, und MTV besinnt sich wieder auf Musik.“ Der Sender reagierte mit dem Hinweis, Timberlake sei allein im März 92mal mit seinem neuen Album auf MTV zu sehen gewesen: Justin weiß besser als jeder andere, dass Videos nur ein Teil der musikalischen Erlebniswelt von MTV sind.“

I n Deutschland ist die MTV-Welt dagegen noch in Ordnung, weshalb Senderchef Elmar Giglinger über den Ausbruch des einst so geschmeidigen Sängers nur schmunzeln kann. „Es ist ja legitim, mehr Musik zu fordern. In Deutschland sieht es allerdings sowieso anders aus, hier besteht das Programm zu etwa 70 Prozent aus Musik.“

Gerade konnte das hiesige MTV mit 2,5 Prozent Marktanteil den erfolgreichsten September seit Bedie EMAS in stehen des Senders feiern, da gibt München: es wenig Grund zur Sorge. „Für Snoop DOSE den deutschen Markt scheint das Rock&Roll

die richtige Mischung zu sein, hier kann man bestimmt nicht von einer Krise reden. 2006 hatten wir nach GfK das erfolgreichste Jahr euer, und 2007 sind wir bislang im knapp zweistelligen Bereich noch über dem Vorjahr. Aber in den USA haben die Kollegen natürlich schon bessere Jahre erlebt, auch was die Einschaltquoten betrifft.“

Bereits Ende der 90er Jahre traf MTV die weltweite strategische Entscheidung, immer mehr auf nicht-musikalischen Inhalt zu setzen. Damals war schon abzusehen, dass Videoclips bald auf so vielen Plattformen gesehen werden können, dass für MTV allein damit kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist – und schon gar keine Werbekunden. Der exklusive Inhalt musste woanders herkommen, und so wandelte sich das Programm zum Entertainment-Sender, bei dem Musik zumindest in der Prime Time nicht mehr die Hauptrolle spielt. ,^Wenn es keine anderen Vermarktungskanäle gäbe, wenn Musik kulturell unwichtiger werden würde, dann wäre das ein Grund, das Verschwinden des Videos auf MTV zu beklagen“, sagt Ian Rogers, Geschäftsführer von Yahoo! Music. „Aber so ist es ja nicht – heute kannst du dir alles, was je gedreht wurde, sofort im Internet anschauen. Das Video hat eine neue, bessere Heimat gefunden.“

Was freilich auch bedeutet: Timberlakes Kritik ist nur die Spitze des Eisbergs. Allerorten wird befürchtet, das Gesicht des Senders könne sich dauerhaft verändern. „The Hills“ ist in den USA ein Riesen-Erfolg, während dort bei „TRL“, früher das MTV-Flaggschiff, die Quoten in den Keller gehen – kaum erstaunlich in einer Zeit, in der sich die Fans tatsächlich jedes gewünschte Video auf Websites von Yahoo! bis YouTube (oder MTVs eigener Site) anschauen können. An Werktagen platziert das amerikanische MTV seine Musiksendungen vor allem im Zeitfenster zwischen fünf und zehn Uhr morgens; die Hauptsendezeit ist reserviert für Mehrfachausstrahlungen von „The Hills“ und anderen Reality-Shows.

In Deutschland sieht es noch anders aus, aber das Hit-Forroat ist auch hier kein musikalisches, sondern – „Flavor Of Love“. Nachdem der Public Enemy-Rapper zuerst in der Reality-Show „Strange Love“ Brigitte Nielsen nachstellte, sucht er nun schon zum zweiten Mal per TV-Show seine Traumfrau. Es ist die Mischung aus Zickenkrieg und Modenschau, Angeberei und Idiotie, die auf fragwürdige Weise sehr faszinierend ist. Wie Flavor Flav die Frauen um sich gruppiert und sich bewundern lässt, ständig Popos angrapscht, aber immer betont, wie sehr er die Frauen verstehe („I’m feeling you!“). Frauen, die sich „Hottie“ oder „Nibblz“ nennen und allesamt wie Stripperinnen oder wildgewordene Kellnerinnen aussehen. Natürlich ist das absolut sexistisch und kein bisschen realistisch, aber genau darin liegt ja der Witz. Hier wird gar nicht versucht, das wahre Leben abzubilden, es ist – wie auch „Hogan Knows Best“, die Familien-Saga in der Tradition der „Osbournes“ – eher eine Freak-Show. Oder, wie Giglinger es freundlicher ausdrückt: „Man sitzt mit offenem Mund und großen Augen davor.“ Er macht sich keine Illusionen darüber, warum Sendungen wie „Date my Mom“ (Junge geht mit drei Müttern aus und sucht dann eine Tochter aus, ohne die je gesehen zu haben) oder „Next“ (Junge/Mädchen wählt aus einem Bus mit Kandidaten den geeigneten Partner) auch hierzulande so erfolgreich laufen. „Wir übernehmen etwa 30,40 Prozent des US-Programms. Über die Jahre haben wir ein Gefühl dafür entwickelt, was funktionieren kann und was nicht. ,Date my Mum‘ zum Beispiel funktioniert hier aus ganz anderen Gründen als in den USA. Hier hat das viel damit zu tun, sich die- in Anführungszeichen! – blöden Amis anzuschauen. Aus deutscher Sicht haben solche Programme schon sehr viel von Real-Satire, und das macht sie attraktiv.“

Sehr attraktiv sogar: Verglichen mit der durchschnittlichen Musik-Stunde hat die durchschnittliche Show-Stunde50 bis 100 Prozent mehr Zuschauer. Die müssen sich also an die eigene Nase fassen, wenn nach dem Grund gefragt wird, warum im Music Television nicht mehr nur Musik läuft. „Wir programmieren ja nicht am Zuschauer vorbei. Würde der noch mehr Musik gucken, dann würden wir noch mehr Musik programmieren. Wir wollen den Zuschauern ja nichts aufzwingen, nachdem Motto: Musik ist jetzt aus, jetzt werden Cartoons geguckt! So läuft das nicht. Wir müssen einfach ein Programm anbieten, das in unserer Kernzielgruppe gut ankommt.“

Und das bedeutet: viele, viele Folgen von „South Park“, dazwischen beknackte Eichhörnchen („Suicidal Squirrels“), eine Spuk-Show („Room 401“) und „Scarred“, das ultimative Programm zum Kopfschütteln: Wenn hirnverbrannte Sportler ihre Verletzungen zeigen, wünscht man sich fast, Jackass“ zurück.

Allerdings hat MTV mit den „Masters“ zumindest auch ordentliche Musik-Dokumentationen im Programm, und richtig Erwachsene können bei der Inhalts-Diskussion eigentlich sowieso nicht mitreden, weil sie längst nicht mehr zur Zielgruppe gehören. Eine Tatsache, die laut Giglinger von Nörglern gern übersehen wird: „Ich habe schon den Eindruck, dass die Kritik auf den Medien-Seiten überwiegend von Leuten kommt, die vielleicht das Musik-Fernsehen vermissen, das sie vor 20 Jahren mal toll fanden. Dabei wird manchmal wohl vergessen, dass wir in erster Linie ein Programm für die heute 14- bis 29-Jährigen machen.“

Aus den USA hört man ähnliche Argumente, wenn es um die VMAs geht. Viele hatten zum Beispiel bezweifelt, dass es eine gute Entscheidung war, 40 Auftritte, die meisten davon nicht mal auf der Hauptbühne, in zwei Stunden Sendezeit zu pressen. „Die einzige Kritik, die uns wirklich interessiert, ist das, was unser Publikum denkt, und das war von der Show begeistert“, meint MTV-Vize Amy Doyle und verweist auf Umfragen, nach denen sich 82 Prozent der Zielgruppe positiv äußerten. Kritisiert wurde auch, der Sender habe bewusst mit der Medienwirksamkeit des desaströsen Spears-Auftritts kalkuliert. „Die wussten, dass sie noch nicht so weit war“, erklärte Kanye West im Radio. „Sie haben sie ausgenutzt.“ Womit man sie nur noch mehr zum Dummchen degradiert. Wenn jemand weiß, welche Bedeutung MTV haben kann, dann doch wohl Britney. Sie kann den Auftritt kaum für eine kleine Comeback-Probe gehalten haben.

Wenn nun am 1. November die „Europe Music Awards“ in der Münchner Olympiahalle vergeben werden, sind kleine Skandale wie Britneys Blamage oder Justins Respektlosigkeit nicht zu befürchten. Timberlake moderierte die EMAs im vergangenen Jahr noch selbst, diesmal ist er immerhin für vier Preise nominiert. Kein Grund sich zu beschweren also. Inzwischen hat sich Snoop Dogg, der jetzt den Zeremonienmeister gibt, schon mal in bayerische Tracht geworfen. Es wirkt wie ein Sinnbild für MTV: In den USA ist Spaß zurzeit eher selten zu haben, aber in Old Europe kann man sich’s noch gutgehen lassen.

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